Tag 7 - Ach du liebe Faehre (08.06.2024)

Von Katwijk nach Hoeksche Waard

Begleitet von den Rufen der Möwen wachen wir früh auf, denn heute steht uns vieren die längste Etappe der bisherigen Tour bevor. Es geht knapp über 100 km zu Freunden, die wir auf unserer Nordkap Tour kennengelernt haben. Annemiek und Peter freuen sich wie wir seit Tagen auf diesen Moment. So packen wir voller Vorfreude unser Zelt zusammen. Friederike öffnet die Tür und begrüßt uns. Wir putzen Zähne, satteln die Esel und füllen wohlwissend unseren Wasservorrat auf. Dirk-Jan hat noch eine Falttechnik für die Reifen und gibt uns Tipps für die heutige Strecke. Es ist immer gut, mit Ortskundigen über die Route zu sprechen, um Schwierigkeiten zu vermeiden und besonders um die reizvollen Geheimtipps vor Ort erkunden zu können. So bedanken wir uns für die Nacht und rollen los. Mit uns wandern zahlreiche Menschen an der Strandpromenade entlang. Es scheint ein großer Marsch oder Trainingslauf zu sein. An den Dünen knicken die Marschierenden in Richtung Strand und wir in die Dünen ab. Es geht wie am Vortag durch unglaublich schöne grüne Dünen. Kleine tiefblaue Teiche haben sich in den Tälern der Dünen gesammelt und bieten neben den Sträuchern Rückzugsorte für zahlreiche Vögel. Im kalten Grau erreichen wir die moderne Promenade in Scheveningen und damit den traumhaften Strand von Den Haag. Wir genießen etwas Porridge, den Ausblick auf das Meer und einen kühlen Schluck aus der Wasserflasche. Dann geht es auf zu unserer kleinen Touritour durch Den Haag.

Es geht schnurgerade durch die grünen Parkanlagen Scheveningens zum Vredespaleis mit dem Sitz des Internationalen Gerichtshofes. Es ist interessant und bestürzend zugleich, dass für die Flamme des Friedens auf dem Vorplatz 197 Länder und Regionen gemeinsam für Frieden einstehen und sie sich doch zugleich immer wieder untereinander bekämpfen. Die Flamme selbst ist eine Fusion von sieben aus Flammen fünf Kontinenten, umgeben von Steinen der Länder. Gerade auch am Tag vor der Europawahl werden wir etwas nachdenklich und schöpfen zugleich Hoffnung. Ein Jahr nach der Fertigstellung des Palastes brach der erste Weltkrieg aus. Es folgten der zweite und zahlreiche weitere lokale und überregionale Kriege. Doch eines überdauerte alle, das Streben nach Frieden. Wir rollen weiter in die immer belebtere Stadt. Es geht vorbei am Arbeitspalast des Königs und der Königin Noordeinde und, über einen kleinen Schlenker durch das Grün der Allee Lange Voorhout, zum Binnenhof, dem politischen Herzen der Niederlande. Dieser wird derzeit, wie so vieles in den Niederlanden, renoviert und modernisiert. Auf der Wasserfläche davor findet gerade ein Ruderwettkampf statt, Europa Flaggen wehen im Wind und allgemein sind wir von dem geschäftigen Treiben aus Schaulustigen, Presse, Touristen und Passanten umgeben. Auch ein paar Radreisende gesellen sich dazu. Wir beobachten noch ein bisschen und machen uns erneut auf in Richtung der Dünen.

Dort angelangt sehen wir zahlreiche Kitesurfer durch die Wellen der aufgepeitschten See gleiten. Gern würden wir ebenso den Wind für unser Fortkommen nutzen, aber uns trifft er leider frontal. Einzig ein paar Dünentäler bieten kurzzeitigen Schutz in der gewohnt faszinierenden Natur. Neben den Aktivitäten auf dem Wasser nutzen zahlreiche Menschen  atemberaubende Landschaft oberhalb des Meeres für sportliche Aktivitäten. Besonders fasziniert uns ein Läufer, der mit seinem Rucksack beinahe unser Tempo von 16 km/h kilometerweit bergauf und bergab durch die Dünen läuft. Dann wechseln wir den Weg auf die dem Land zugewandte Seite der Dünen und erblicken eine Glasfront. Unzählige Gewächshäuser stehen dicht an dicht hinter den Dünen und erstrecken sich, soweit das Auge reicht. Fasziniert folgen wir dem Weg dem Hoek van Holland entgegen. Nach guten 45 km machen wir hier erst einmal Pause. Wir genießen die Sonne. Lassen uns von Europas größtem Hafen in den Bann ziehen und verfolgen ungläubig ein bestimmt 60 m hohes Containerschiff, wie es hinter den Kränen des Hafens in einem Seitenarm verschwindet.

Zeitgleich verlassen und kommen Tanker sowie kleinere Containerschiffe aus und in den Hafen. In den vergangenen Tagen sahen wir bereits immer wieder Bunkerreste in den Dünen. Diese waren ein Teil des Atlantikwalls. Diese 2685 km lange Küstenverteidigungslinie sollte Nazi-Deutschland vor einer Invasion durch die Westallieierten schützen. Hier am Hoek van Holland befindet sich ein zugehöriger Artilleriebunker, der heute ein Museum zum Atlantikwall beherbergt. Da wir auf unserer Reise entlang der Atlantikküste noch häufig auf besagte Anlagen treffen werden, verschieben wir einen Museumsbesuch auf einen späteren Zeitpunkt und entscheiden uns, unsere Kräfte für die verbleibenden 60 km zu sammeln. Wir essen noch ein paar Riegel zu Mittag und brausen mit Rückenwind in Richtung Rotterdam. Doch so leicht kann man der Geschichte nicht entfliehen. Vor einer Festungsanlage steht noch ein Denkmal, das an die etwa 10.000 jüdischen Kinder aus dem deutschen Reich, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei erinnert, die 1938/39 über Rotterdam nach Großbritannien verschickt und somit vor der Verfolgung durch die Nazis und dem sicheren Tod gerettet.

Doch Emil und Elias tragen uns mit dem Wind weiter hinein, hin zu einem Bauwerk, das eine seit jeher bestehende Herausforderung in den Niederlanden angeht. Das moderne Sturmflutsperrwerk Maeslantkering verbessert den Hochwasserschutz im Großraum Rotterdam, ohne den Schiffsverkehr zu beeinträchtigen, da die kreisbogenförmigen Tore im geöffneten Zustand an Land liegen. Ein beeindruckendes Bauwerk! Wir rasen weiter der Stadt entgegen, grüßen andere Radreisende und bestaunen neue Wohnkomplexe am Ufer. Schon sind wir in Rotterdam. Da wir letztes Jahr die Stadt bereits auf einer Zugreise erkundet haben, rollen wir nicht in die Innenstadt, sondern winken den Passagieren eines Schiffs der Holland Amerika Lijn, passieren unter staunenden Blicken eine elitäre Hochzeitsgesellschaft und überqueren die Erasmusbrücke. Danach geht es scharf rechts zum Hotel New York. An dem geschichtsträchtigen Ort blickten zahlreiche Emigranten ein letztes Mal zurück in ihre alte Heimat, bevor sie ihr Glück in der “neuen Welt” suchten. Nach einer ausgiebigen Pause verlassen wir Rotterdam in Richtung Südwesten. Wir sind heilfroh, als wir langsam aus dem Trubel der Stadt entkommen. Die Motorroller auf den Radwegen verschwinden und die Wohnblocks Einfamilienhäusern Platz machen. Aus den Gärten werden grüne Wiesen und schon befinden wir uns an der Oude Maas.

Die Menschen sind entspannt und genießen den Abend. Wir genießen die Natur und freuen uns mit den Kindern einer Geburtstagsfeier, als eine kleine Dampflok hupend und rauchend unseren Weg kreuzt. Ein Radreisender kommt uns schwer beladen, aber glücklich entgegen. Wir genießen das Wetter. Gleich geht es nur noch den Hügel hinab und rechts zur Fähre, dann sind es nur noch 10 km zu unseren Freunden, dem leckeren Essen und einer Dusche sowie dem weichen Bett. Doch “Legt die gerade an oder fährt sie ab?” ruft Kyra erschrocken fragend. Wir winken und realisieren noch gar nicht die Situation. Ein Blick auf die Fährzeiten holt uns knallhart in die Realität. Unter der Woche bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag ist die letzte Fahrt um 17:35 Uhr. Es ist 17:36 Uhr und wir sehen nun, verärgert über uns selbst, der Fähre nach, die langsam durch die Wogen des Flusses zum anderen Ufer schippert. Sie ist weg. “Aber das Tor ist doch noch offen.” “Vielleicht kommt sie zurück?” “Warum sind wir nicht ein bisschen schneller gefahren?”… Es hilft alles nichts, wir hatten alle Möglichkeiten und haben einfach ein Detail übersehen. “Wie kommen wir weiter?”, fragt Kyra sichtlich erschöpft nach den knapp 100 km. “Ich weiß nicht… Wir haben zwei Optionen. Zurück gegen den Wind, in den Tunnel bei Rotterdam oder mit dem Wind nach Dordrecht und dann gegen den Wind durch den Tunnel bei ‘s-Gravendeel.” Beides ist etwa gleich weit entfernt und wird mit 25 km zu Buche schlagen. Es wird abgewogen… Etwas zerknirscht machen wir uns auf in Richtung Dordrecht. Eine Radwegsperrung trägt ihr Übriges zur Stimmung bei. Wir kämpfen uns die Brücke hoch. Schlängeln uns erneut am Stadtverkehr entlang und bisweilen hindurch. So langsam verfliegt der Ärger, doch die Erschöpfung bleibt. Die Ampeln schalten automatisch auf Grün. Ein E-Biker überholt uns kurz vor dem Tunnel und verfährt mehrfach, sodass wir drei herzlich lachen müssen, als er das dritte Mal umdreht und uns entgegenkommt. Dann geht es durch den Tunnel. Wir rasen hinab und schleppen uns hinauf. Es gibt sogar eine Rolltreppe für Fußgänger und Radfahrer, aber mit den Taschen erscheint uns dies zu waghalsig. Dann geht es auf den Deich und durch die Wiesen. Ein letztes Mal Rückenwind und dann biegen wir in den Wind ab, einer Unwetterfront entgegen. Es geht durch hübsche kleine Örtchen und vorbei an Alpakas und Eseln. Wir wollen uns die verbleibenden 6 km gegen den Wind teilen. Kyra fährt die ersten 3 km. Der Wind peitscht und erste Tropfen fallen. Links über eine Brücke, wieder in den Wind und… “Ist das?” schauen wir uns erschöpft fragend an. Peter radelt uns fröhlich winkend entgegen. Große Freude macht sich breit und die letzten Kilometer vergehen fast wie im Flug. Bei Ihrem Haus angekommen öffnet Annemiek die Garage und wir umarmen uns herzlich. Wir zittern vor Kälte und Erschöpfung. Packen die Taschen ab und verstauen alles. Auf dem Tisch wartet ein Berg aus frischen, dampfenden, leckeren Pfannkuchen. Dazu gibt es herrliches alkoholfreies Bier, Wasser und zahlreiche Marmeladen. Ein Traum nach fast 125 km. Nun weiß man wieder, warum man diese Strapazen auf sich nimmt. Es sind die guten Gespräche mit netten Menschen, die herzliche Gastfreundschaft, die gemeinsamen Erfahrungen und die ehrliche und aufrichtige Freude auf beiden Seiten. Wir sagen gute Nacht und fallen beinahe in die Dusche. Von dort geht es ohne Umwege satt und zufrieden ins wohlig warme, weiche Bett. Gute Nacht!