Tag 65 - Blick in die Vergangenheit (05.08.2024)

Von Marwick Head nach Rackwick Beach

Wellen brechen laut an der Küste und allerhand Vögel kreischen über uns. Nach dem gestrigen kleinen Regenschauer sieht der Himmel nicht freundlicher aus und scheint uns bereits jetzt vor dem anstehenden Regen zu warnen. Wir bleiben zunächst im Zelt und schreiben etwas am Blog, doch dann ist die Zeit gekommen, um aufzubrechen. Unweit unserer Schlafstelle befinden sich alte Fischerhäuser, die wir uns gerne anschauen möchten. Der Schotterweg führt uns direkt am tosenden Meer entlang und lässt nur entfernt erahnen, wie sich die Fischer bei Sturm und rauer See gefühlt haben müssen. Die drei Steinhütten wurden zwischen 1898 und 1913 von lokalen Bauern errichtet. Mit einer Winde, von einem alten gestrandeten Trampdampfer, wurden die Fischerboote den steilen Hang hinaufgezogen. Zum Fischen wurden Handleinen benutzt, um Kabeljau und Schellfisch für den eigenen Gebrauch zu fangen. Unvorstellbar, wie manche Tage und Nächte hier ausgesehen haben müssen. Nach der kleinen Erkundung fahren wir den kleinen Schotterweg an der Küste mit Blick auf das Kitchener Memorial, welches an die HSM Hampshire (Panzerkreuzer), die hier 1916 von einer Mine getroffen wurde und sank, erinnert, zurück. Wahnsinn, wie die Orkneys auf gefühlt jedem Meter gefüllt von der Geschichte der Vergangenheit sind.

Unser nächstes Ziel für heute soll uns jedoch noch wesentlich weiter in die Vergangenheit führen. Doch zunächst machen wir am Skaill Beach eine kleine Pipi-Pause. Als wir in Skara Brae ankommen, sind bereits einige Autos aus ganz Europa auf dem Parkplatz anzutreffen. Nicht verwunderlich, denn die Gebäude von Skara Brae sind von circa 3100 vor Christus und somit ziemlich einzigartig und eines der frühestens bekannten Bauerndörfer in Großbritannien. Unglaublich! 600 Jahre lang lebte hier eine Gemeinschaft auf engstem Raum von Steinhäusern, die durch gepflasterte Wege verbunden waren. Das wollen wir uns nicht entgehen lassen und bezahlen für den Museumsraum sowie die Außenfläche. Im Museum erfahren wir allerhand über die Werkzeuge, Töpfe und sonstige Gegenstände. Warum das Dorf schließlich gegen 2500 vor Christus verlassen wurde, ist nicht bekannt. Darüber kann nur spekuliert werden. Die Theorien reichen von einem Sandsturm bis zum Verfall der Gesellschaft. Eher bekannt ist, warum genau dieser Ort gewählt wurde. Der Boden von Skara Brae war besonders fruchtbar. Es wurde viel angebaut und Tiere gehalten, Wildschweine schritten umher, das Meer war voll von Fischen und Treibholz, welches aus Amerika angespült wurde. Zudem brüteten, wie heute, große Kolonien an Seevögeln an den Klippen und für Baumaterialien sorgten Steine, Lehm und Kieselsteine. Gespannt verlassen wir den Museumsraum und begehen zunächst einen Nachbau von Hütte 7, die bei den Ausgrabungen am besten erhalten war.

Anschließend führt uns der Weg an die eigentliche Dorfstelle, wo wir mit zahlreichen Menschen auf eigenen, erhöhten Steinwegen durchs ehemalige Dorf geführt werden. Eindrucksvoll schauen wir alle auf die Steine hinunter und können noch schwerer als bei den Fischerhäusern das Leben der einstigen Menschen begreifen. Vom Dorf aus gelangen wir zum Skaill Hous. Am Anfang sind wir ein bisschen irritiert, warum das Haus und somit auch der Eintritt in dieses dazu gehört, doch dann stellt sich heraus, dass nach dem Hochverrat und der daraus folgenden Hinrichtung von Patrick Stewart die Ländereien an Georg Graham, dem Bischof von Orkney fielen. Der Sohn des Bischofs wurde Laird von Orkney und das 1620 errichtete Herrenhaus wurde an die Linie der Lairds von Orkney vererbt. Der 7. Laird war William G. Watt, welcher Skara Brae 1850 ausgrub. Die Geschichte der Lairds of Breckness reicht jedoch bis heute, bis zum aktuell 12 Laird Maij. Malcolm Macrae. 1997 wurde das Herrenhaus restauriert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der aktuelle Zustand ist aus dem Jahr 1950, es werden jedoch auch einige Objekte der Zeit davor ausgestellt. Besonders beeindruckend ist das im Originalzustand erhaltene Schlafzimmer und Badezimmer von Elizabeth Scarth, die 1928 geboren wurde. Ihr jüngerer Bruder Walter wurde 1933 geboren und war während seiner Schulzeit auf der britischen Hauptinsel. 1948 kehrte er auf die Orkneys zurück und wurde auf tragische Weise nur ein paar Tage später tödlich durch ein Pferd verletzt. Elizabeths und Walters Vater Henry war der letzte Laird, der im Haus Skaill lebte. Wir erkunden, während draußen der Regen gegen die Fenster peitscht, die Räume und machen uns anschließend auf den Rückweg zum Besucherzentrum, wo sich der Museumsraum zu Skara Brae befindet. Aufgrund des schlechten Wetters und mit der Hoffnung, dass der Regen gleich aufhört, entscheiden wir uns für einen heißen Kako und Kuchen. Leider werden wir insbesondere beim Kakao ziemlich enttäuscht, da dieser scheinbar nur mit Instant Pulver und Wasser gemacht wurde. Als wir das Café vom Besucherzentrum verlassen, regnet es leider noch immer.

Während wir unsere Regenkleidung überstreifen, unterhalten wir uns noch kurz mit einem anderen Radler. Anschließend geht es der nächsten Sehenswürdigkeit, dem Ring von Brodgar entgegen. Wir laufen einmal um den spektakulären Steinkreis aus der späteren Jungsteinzeit herum und genießen den aufklarenden Himmel. Als wir gerade einmal ein paar Meter weiter gefahren sind, entdecken wir per Zufall, wo unsere Bekanntschaft Ben von vor zwei Tagen bei Ausgrabungen beteiligt ist. Leider ist Ben bereits vor ein paar Minuten mit seinem Van winkend an uns vorbeigefahren, aber die Ausgrabungen von Ness of Brodgar wollen wir uns nicht entgehen lassen. “Sorry we’re almost closed. You need to do a sprint or will you be around by tomorrow?”, fragt die nette Archäologin am Eingang. Da wir heute noch die Fähre nach Hoy nehmen wollen, entscheiden wir uns für den Sprint. Sie erklärt uns noch schnell die einzelnen Punkte der Ausgrabung und dann sprinten wir los. In gerade einmal 5 Minuten fliegen wir über die Ausgrabung. Wir fotografieren zur Sicherheit die Schautafeln, da doch einige Bereiche aufgrund des Regens abgedeckt wurden. Es ist spannend die aktuellen Ausgrabungen zu sehen. Die Gebäude liegen genau zwischen zwei Lochs und wurden um 3200 vor Christus erbaut. Es muss zu dieser Zeit ein wichtiger Ort zwischen kulturell bedeutenden Stätten gewesen sein, an dem die Häuser, mit ihren bemalten Fassaden und Schieferdächern, immer wieder neu errichtet wurden. Nach unserem Sprint wünschen wir den verbliebenen Beteiligten der Ausgrabung noch einen schönen Feierabend und sie uns eine gute Weiterfahrt.

Schon erreichen wir die Standing Stones of Stenness. Nur vier der vormals 11 Steine stehen noch an Ort und Stelle. Ein Landwirt war mit der Zeit entnervt immer um die Steine herum mähen zu müssen. Kurzerhand zerstörte er den Odin-Stein und warf einen der stehenden Steine um. Die Dorfgemeinschaft war so erzürnt, dass sie versuchten sein Haus niederzubrennen, zweimal. Der Zweck der Steine ist ungewiss. Vermutlich war der Zugang zum vertieften Steinkreis reguliert. Wer nicht in den Kreis treten durfte konnte von der Erhöhung außerhalb beiwohnen. In der Mitte brannte ein Feuer und die Schatten tanzten auf den Steinen, während die Stimmen wiederhallten. Man kann nur erahnen, wie eindrucksvoll diese Stimmung in einer klaren Nacht unter dem Sternenhimmel gewesen sein muss. Beim Verlassen spricht uns noch ein älterer Herr mit seiner Partnerin an. Wir unterhalten uns kurz über unsere Tour. Er ist begeistert und wünscht uns alles Gute. Wir schauen auf die Uhr. “Sollte eigentlich gut passen”, stellen wir einstimmig fest bevor wir nach rechts in den Gegenwind abbiegen. Nun kämpfen wir gegen den Wind und die Zeit. So sehr, dass Michi sogar eine Eisdiele mit selbstgemachtes Eis sehnsüchtig blickend links liegen lässt. Bergauf, bergab und zum Anleger. Wir haben es geschafft. “Doch wo ist die Fähre?”, fragen wir uns etwas irritiert. Dann finden wir die kleine Fähre. Unterhalten uns kurz mit dem Fährmann und packen unsere Taschen ab. Diese tragen wir über eine Treppe hinab auf das Schiff. Hier werden sie an Deck in einer Metallbox sicher verwahrt. Zum Glück haben die anderen nicht so viele Gepäckstücke, da unsere Taschen bereits die halbe Box belegen. Dann werden Emil und Elias mit einem dritten Fahrrad zusammengebunden. Der Besitzer setzt sich zu uns. J.D. kommt ursprünglich aus den USA und lebt jedoch schon länger in UK. Wir unterhalten uns über alles Mögliche, die Insel Hoy, Partnerschaften, Arbeit und Radfahren. Nach einem kurzen Zwischenstopp legen wir auf Hoy an. Doch damit haben wir nicht gerechnet. Der Fährmann weist uns kurz vor der Ankunft an, die Taschen bereit zu machen. Wir nehmen so viel, wie wir tragen können. Schon legt die Fähre schaukelnd an einem schmalen Pier an. J.D. steigt samt Fahrrad aus und verabschiedet sich im Losfahren. “Vielleicht sehen wir uns beim Bothy”, denken wir uns noch, als wir erkennen, dass eine steile Treppe nach oben führt. Wir klettern diese samt unserem Hab und Gut empor. Jeder Schritt auf den nassen Stufen muss sitzen, ein Geländer gibt es nicht. Oben angekommen, legen wir die Taschen ab.

Als wir uns umdrehen, werden uns bereits die Drahtesel auf die Stufen gereicht. Wir tragen diese nach oben und drehen uns erneut zur Verabschiedung um. Doch die Fähre hat bereits abgelegt und wir blicken ihr etwas irritiert nach. Alles ging so schnell, dass wir die Situation erst noch verarbeiten müssen. Das Wasser ist glasklar, ein kalter Wind weht und wir stehen verlassen auf dem gerade einmal etwa 2 m breitem Pier. Zwischen den Wolken blitzt die Sonne durch und wir satteln unsere Drahtesel. Dann geht es hoch und durch ein Tal dem Strand entgegen. Wir überholen zwei Frauen, grüßen uns gegenseitig und sind froh, mit dem Rad etwas schneller als die Midges zu sein. Wir radeln zwischen zwei Bergen am Dwarfie Stane, dem Zwergenstein ein Steingrab, vorbei. Doch für eine Besichtigung ist heute keine Zeit, da wir noch zum Old Man of Hoy wollen oder zumindest das Zelt im Tageslicht aufbauen. Die Sonne taucht das Tal in ein goldgelbes Licht, sodass die kleinen Tümpel und das Flüsschen zwischen den braun und lila Tönen der Heide blitzen und funkeln. Der Berg zur rechten, mit seinen im Schatten liegenden Wasserfällen und saftig grünen Hängen bildet einen harten Kontrast.

Dann sehen und riechen wir die See. Hohe Wellen brechen an dem Strand, mit seinen rundeschliffenen grau-roten Steinen. Die Gischt fliegt über die kleine Steinhütte am Strand bis in die Heide hinein. Das Sonnenlicht bricht sich darin in allen Facetten. J.D. ist auch gerade angekommen und trägt seine Sachen in die Hütte. Wir suchen noch einen netten Platz für das Zelt. Doch während wir suchen, machen sich unbemerkt kleine Biester auf. Erheben sich lautlos aus dem ungemähten Rasen. “Midges!”, ruft Kyra alarmiert. Wir lehnen die Räder an und verschwinden in der Hütte. J.D. beginnt zu kochen und wir tun es ihm gleich. Die Schutzhütte, in Schottland „Bothy” genannt, ist zweckmäßig eingerichtet und sauber. Es gibt einen Ofen, Tische, Bänke, Stühle und nebenan sogar eine Toilette. Wir unterhalten uns weiter und als nur noch rötliches Dämmerlicht in die Hütte fällt, beginnen wir gerade ernstere Themen, wie Politik und Ausgrenzung zu besprechen. Da fliegt die Tür auf und die beiden Frauen retten sich ebenso in die Hütte. Wir quatschen wieder über leichtere Themen, bis wir auf das brennendste und aktuellste Problem stoßen. Natürlich, Midges! Die eine der beiden ist gebürtig von den Orkneys und hat sogleich eine Volkssage parat.

“Einst lebte der böse Riese Thrym hoch oben in Norwegen. Im Gegensatz zu den anderen Riesen hasste und verachtete er Menschen. Er sah sie als nichts weiter, als als billige Nahrung an. Er mochte nicht einmal ihren Geruch, ihre Art sich zu bewegen, zu leben… Kurz, er hasste sie ganz und gar. So stieg er hinab in die Dörfer und rief: “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” Und das tat er. Als sein Verhalten nicht nur für die Menschen, sondern auch für die anderen Riesen selbst untragbar wurde, verstießen sie ihn. So eilte er über die See gen Südwesten und schrie voller Wut: “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” Sodann erreichte er die Shetlands, wo er kaum Essbares noch viele Menschen fand. Hungrig und erfüllt von Hass, zog er südlich auf die Orkneys. Hier fand er Menschen und tobte erneut: “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” Und das tat er, bis auf den fruchtbaren Inseln fast keine Menschen mehr über waren. Die, die überlebten, flüchteten sich in Booten zum Festland in die Region, die heute als Caithness bekannt ist. So jagte Thrym ihnen hinterher und durch Schottland. Schon bald hörten auch die Menschen in Applecross ein tiefes Grollen über den Bealach dröhnen. “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” Doch die Bewohner wussten bereits, was es damit auf sich hatte, da Flüchtlinge von dem grausamen Riesen erzählten. Tatsächlich war das Dorf bereits so voll mit Flüchtlingen, dass einige in schierer Panik weiter gen Westen auf die Inseln wie z.B. Skye flohen. Da es aufgrund der vielen Menschen zu Nahrungsknappheit kam, schmiedeten die Ältesten von Applecross einen Plan die Ursache des Flüchtlingsstroms zu beenden. Alle Dorfbewohner gruben ein breites und tiefes Loch. In dessen Grund steckten sie Baumstämme, die sie anspitzten. Dann schickten sie die unartigsten und gemeinsten Kinder auf den Berg, um Thrym zu beleidigen und zu verspotten. Es dauerte nicht lange, da hörte man das bedrohliche Grollen näherkommen: “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” Schon lugte der grässliche Riese mit einem Auge über den Gipfel. Die Kinder kannten den Berg gut und rannten schnell ins Dorf hinab. Thrym jedoch stolperte in schierer Raserei den Hang hinunter. Kurz vor dem Dorf übersah er die massive Kette, die auf der Höhe seiner Knöchel gespannt war. So fiel er… kopfüber in die Grube mit den Pfählen. Alle Dorfbewohner nahmen was sie an scharfen Gegenständen finden konnten und hackten auf den wehrlosen Riesen ein. Als nur noch kleine Stücke übrig waren, feierten sie ihren Triumph. Doch schon bald hörten sie eine entrückte zitternde Stimme: “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” Als sie kurz vor Morgengrauen zur Grube eilten sahen sie den Ursprung. Thryms Einzelteile hatten begonnen zu wackeln, ja zu kriechen und setzten sich wieder zusammen. In Panik sammelten sie alles Brennbare, was sie finden konnten. Trockener Seetang, Heidekraut, Torf und Geäst füllten sie in die Grube und entfachten ein loderndes Feuer, das den ganzen Tag brannte. Am Abend war nur noch eine feine, dichte Asche über. Es war ruhig und Erleichterung breitete sich unter den Menschen aus, als sich ein Lüftchen unter die Asche schob und diese aufwirbelte. Die feine Asche wehte jedoch nicht einfach davon. Sie bildete Schwärme, die die Menschen verfolgten und nach ihrem Blut gierten. So kamen die Midges nach Schottland und insbesondere in die Highlands. Und wenn man genau hinhört, hört man bei den Schwärmen eine hohe surrende Stimme: “Ich werde euch finden, ich werde euch fangen und ich werde euch essen!” ”

Wir sind uns sicher, ein gewisses Maß an Wahrheit steckt in dieser spannenden und etwas blutrünstigen Sage. Dann sprechen wir noch etwas über die Sagenwelt und essen unsere Spaghetti. Es ist interessant Einblicke in diese von jemandem zu erhalten, der damit aufgewachsen ist und so lebhaft erzählen kann. Gerne würden wir noch Stunden von Trows und Riesen hören, doch stürzen wir uns in die letzten kalten Lichtstrahlen, die die Sonne noch blau über den Horizont wirft. Im kalten Wind unter Meeresrauschen bauen wir unsere Zelte auf und wünschen uns eine gute Nacht, ehe die Midges uns gänzlich aussaugen.