Tag 139 - Eine bewegende Vergangenheit (18.10.2024)
Von La Baie nach Longues-sur-Mer
Wir erwachen im Morgengrauen, wobei der Mond die letzte Nacht beinahe taghell erleuchtet hat. Wir frühstücken in den Schlafsäcken und ein sonniger Tag erwartet uns. „Da kommt jemand“ raunt Michi. Schon kommen drei… Pferde samt Reiterinnen den schmalen Sandpfad entlang. Wir grüßen freundlich und sie uns zurück. Doch wir packen lieber alles schnell zusammen, schieben die Esel zurück zum Hauptweg und radeln los. Es geht um die ganze Bucht herum. Die Hauptstadt der Normandie Caen liegt etwas abseits der Küste und wir entscheiden uns diese für ein anderes Abenteuer aufzuheben. Allein das Memorial du Caen, ein Museum zur Landung der Alliierten soll sehr umfassend und informativ sein. Auch architektonisch bietet die Stadt einiges, z.B. die Abbaye aux hommes oder die gotische Kirche Saint Pierre. Kurzum genug für Tage und wir wollen das gute Wetter nutzen, um schleunigst in Richtung Süden zu kommen, denn… Der Winter naht! Zuerst geht es jedoch weiter gen Westen bzw. zunächst gen Süden in Richtung Caen, um über die ersten beiden Brücken beim Dorf Ranville auf die andere Uferseite des Caen-Kanals zu gelangen. Diese waren das erste Ziel der Briten am 06.06.1944, dem D-Day. Mit mehreren Gleitern landeten die Soldaten um kurz nach Mitternacht und nahmen beide strategisch bedeutsamen Brücken, die Horsa- und Pegasus-Brücke, in nur 15 Minuten ein. Für uns geht es weiter nach Norden Richtung Ouistreham. Auf dem Weg am Kanal entlang entdecken wir links von uns ein Zelt im Gebüsch. Dann noch eins. Noch eins und auf einmal erkennen wir erneut ein wildes Flüchtlingslager. Wie in Dunkerque hoffen die armen Gestalten vermutlich auf eine der Fähren in Richtung Großbritannien zu gelangen. Einmal mehr erkennen wir, wie gut es uns geht. Welch Leben lässt man zurück oder welches erhofft man sich, dass man unter solchen Bedingungen ausharrt, hofft und lebt? Wir hingegen können getrost am Fährhafen vorbeifahren und müssen an die letzten Tage in England denken, als wir überlegten, mit welcher Fähre wir nach Frankreich fahren sollen. Es fühlt sich an, als wäre es vor einer Ewigkeit gewesen.
Wir rollen weiter den Strand entlang und unausweichlich der Vergangenheit entgegen. Denn die Operation der Briten an den eben noch überquerten Brücken bildete nur den Auftakt der bis heute größten militärischen Landeoperation in der Geschichte der Menschheit. Schon erblicken wir die erste Gedenkstätte zum 70. Jahrestag der Landung am sogenannten Sword Beach, den am 06.06.1944 28.668 Soldaten der britischen 3. Infanteriedivision gemeinsam mit 177 französischen Soldaten auf etwa 8 km stürmten. Einfach unvorstellbar. Wir fahren weiter und erreichen die Promenade des Friedens. Kyra muss auf die Toilette und Michi läuft bedächtig den von Landesflaggen beteiligter Nationen gesäumten Weg entlang. Im Sand stehen Schautafeln, auf denen Veteranen unterschiedlicher Truppengattungen ihre Eindrücke von der Landung und den Tagen danach schildern. Es ist einfach unvorstellbar, was diese Menschen durchleben mussten. Wir fahren weiter den Strand und die Promenade entlang. Die Sonne scheint, Menschen flanieren lachend an den Gedenkstätten entlang. Die Gräuel jenes Sommertages 1944 sind an diesem Ort präsent, doch das Leben und die Leichtigkeit haben letztendlich gesiegt. Wir verlassen den Strand und passieren ein Ungetüm aus Panzerstahl. Ein gut erhaltener Churchill Panzer AVRE steht mahnend, beeindruckend und zugleich bedrohlich am Straßenrand. Michi betrachtet das gefährt etwas genauer und dann geht es auch schon weiter. Ein paar Tagesausflügler sind mit ihren E-bikes unterwegs, ansonsten ist es zwischen den Orten auf den Radwegen sehr ruhig.
So langsam macht sich der Hunger breit und wir steuern den Lidl in Courseulles sur Mer an. Michi weigert sich zunächst auf dem Radweg zu fahren, da dieser immer wieder unterbrochen wird. Dann ist er gut ausgebaut und durchgängig neben der Straße. Michi fährt hinauf und hinter der nächsten Kurve… hört der Weg auf. “So ein Mist!”, ruft er genervt, aber muss doch per sich lachen. Vielleicht war es einfach das nötige bisschen Karma. Es folgt eine kleine Ehrenrunde im Kreisverkehr, dann ist die richtige Ausfahrt gefunden. Kyra springt kurz in den Laden hinein und kommt mit allerhand Leckereien wieder heraus. “Ich habe Spaghetti gespendet”, sagt sie. “Eine Hilfsorganisation sammelt für Bedürftige Lebensmittelspenden”, ergänzt sie weiter. Spaghetti sind sicherlich nicht die Welt, aber besser als nichts und wir haben eindeutig genug anderes zu essen. Mit einem guten Gefühl und neuem Vorrat für die kommenden Tage geht es weiter. Durch die Stadt gelangen wir zum Hafen und zum befinden uns am nächsten Strandabschnitt, dem Juno Beach. Wir erblicken das Juno Beach Center, ein Museum, das den Kanadiern, deren Kriegsbeteiligung sowie der Landung gewidmet ist. Wir stellen die Drahtesel kurz ab und laufen über das Areal. Wir besichtigen Bunker, sehen ein Artilleriegeschütz, Panzersperren und die sogenannten Kioske vor dem Eingang. Auf diesen sind die Namen der Gefallenen vermerkt. Ein Schaudern läuft einem über den Rücken. Jedes der kleinen Metallplättchen steht für ein Leben… Ein Leben, das zu früh endete, um anderen ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Etwas beklemmt fahren wir weiter, am Juno Beach Memorial vorbei. Wir haben beinahe unser Eis vergessen, das in der Tasche vor sich hin schmilzt. Doch kann man an solch einem Ort unbeschwert Eis essen? Wir nicht, zumindest etwas abseits der Gedenkstätte sollte es sein. Wir passieren erneut einen Panzer. Etwas dahinter finden wir einen Platz auf Steinen. Wir essen unser Eis. Autos kommen, Menschen bestaunen den Panzer, klettern auf ihn, machen Fotos und verschwinden zu den Bunkern am Strand oder zurück in die Autos. Nach dem Eis geht auch Michi langsam zum Stahlkoloss. Dieser wurde am Tag der Landung keine 100 m von hier “ausgeschaltet”. Die Besatzung wurde dabei teilweise schwer verletzt und der Rest getötet. Sicherlich ist derartiges im Krieg zu erwarten, doch nun neben der leblosen Maschine stehend, in der so viel Leid erduldet und Leben erloschen ist… Ein komisches Gefühl macht sich breit. Eine Schwere liegt auf diesem Ort, der ganzen Region und zugleich herrscht nach all den Jahren zurecht doch eine Leichtigkeit und Freude am Leben. Langsam schwingen wir uns auf die Esel und reden viel über die Geschichte, den Umgang mit ihr, Moral, Ethik… Schon haben wir eine Abzweigung verpasst.
Wir drehen und finden uns unverhofft an der Stanley Hollis Hut wieder. Der Brite landete am D-Day am Gold Beach und war der einzige Soldat, der an diesem Tag für seine Heldentaten mit dem Victoria Cross, der höchsten britischen Auszeichnung, geehrt wurde. Neben seiner Ehrentafel finden sich die Namen der Gefallenen seiner Einheit, darunter, an die Wand gelehnt, kleine beschriftete Holzkreuze, die Angehörige dort abgelegt haben. Wir wenden uns ab, den Hügel hinauf. Oben angekommen folgen wir einer Landstraße mit herrlichem Ausblick über das Meer. “Was ist das im Wasser?”, fragen wir uns. Es ist Ebbe und kurze Zeit später klar, was da aus dem Wasser ragt. Es sind die Überreste des Mulberry Hafens, der im Zuge der Operation Overlord aus Pontons und Schwimmbrücken errichtet wurde, um den Nachschub der angelandeten Truppen zu sichern. Erneut ist das Ausmaß nur sehr schwer zu fassen. Kurz darauf machen wir einen kurzen Stopp am D-Day 75 Garden – Le Jardin du Souvenir. Dieser Gedenkpark erinnert ebenso an die Landung und zeigt eindrücklich die Geschehnisse am Strand. Dazu bietet die Gedenkstätte einen atemberaubenden Ausblick über den Gold Beach und Arromanches les Bains. Michi hilft noch einem britischen Touristen, der sich scheinbar Verlaufen hat zurück in den Ort zu finden. Langsam wird es zudem Zeit einen Schlafplatz zu finden. Vielleicht auf den Klippen gegenüber. Wir rauschen hinab und stehen vor einem Sherman Panzer. Unweit sitzt eine Frau mit ihren zwei Hunden, die uns sofort kennenlernen wollen. Wir kommen ins Gespräch und reden über alles Mögliche. Outi ist aus Finnland und Journalistin. Wie wir ist sie unterwegs Richtung Süden nach Spanien. Wir erhalten noch Tipps für die weitere Reise und sollen uns melden, wenn wir in Malaga sind. Ein letztes Mal streicheln wir die Hunde und rauschen weiter hinab. Der Ort mit einem weiteren Museum zur Landung ist noch gut mit Touristen gefüllt. Wir schlängeln uns geübt hindurch und schnell den Hügel auf der anderen Seite hoch. Die Bunkeranlagen lassen wir aus, da in den kommenden Tagen sicherlich noch einige der Widerstandsnester des Atlantikwalls unseren Weg kreuzen werden. An verliebten Pärchen vorbei schleppen wir uns den Schotterweg hinauf. Leider ist der auserkorene Schlafplatz doch besuchter als erwartet. Also radeln wir weiter und finden eine kleine Straße zu einem Wanderweg hinab. Perfekt! Wir packen das Abendessen und den Apfelwein aus, setzen uns auf die Klippen und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Viel ist nicht mehr los und als die Sonne langsam versinkt, bauen wir blitzschnell unser Zelt auf. Einzig ein Wohnmobil parkt noch knappe 200 m von uns, dann ist es ruhig. Nur die Wellen rauschen. Gute Nacht!