Tag 166 - Glück ist das einzige was sich vermehrt, wenn man es teilt (14.11.2024)
Von Ermita de San Miguel Arcángel nach Logroño
Der Himmel ist sternenklar und wir hören nichts außer die entfernte Autobahn. Der Schlafplatz war ein absoluter Traumplatz, doch nun wird es langsam Zeit aufzustehen. Wir packen alles zusammen, putzen die Zähne und machen uns auf den Weg nach Ayegui. Wir haben nichts mehr zum Frühstücken und dort gibt es die nächsten Supermärkte. Obwohl es mit 6°C wesentlich wärmer ist als gestern früh, frieren uns die Hände sehr. Insbesondere das Halten der kalten Bremse ist unangenehm. Doch natürlich geht es zunächst ordentlich auf losem Untergrund steil bergab. Die Hände tun weh, doch nach kurzer Zeit ist unser gesamter Körper warm, da wir den ersten Hügel erklimmen müssen. In Ayegui angelangt suchen wir Lidl auf und kaufen etwas zum Frühstücken sowie die nächsten Tage ein, doch bevor wir Essen, möchten wir ein netten Ort finden. Dafür radeln wir weiter den Berg hinauf und bereits nach wenigen Kilometern finden wir “Fuente del Vino de las Bodegas Irache”, ein kostenloser Weinbrunnen. Jeden Tag werden hier bis zu 100l Wein kostenfrei zur Verfügung gestellt. Damit soll an die Zeit erinnert werden, wo die Mönche Pilgern, die zum Krankenhaus kamen, mit einem Glas Wein begrüßten. Wein kalt als Stärkungsmittel und sollte den häufig sehr kranken Pilgern helfen. Heute dürfen sich alle Pilger an dem jungen Rotwein erfreuen. Er soll den Durst löschen und die Route erträglicher machen. Auch wir probieren einen Schluck und füllen uns eine Wasserflasche ab. Was für eine schöne Tradition. Als wir gerade fertig sind, sehen wir weitere Pilger kommen. Eine Frau ruft: “Is this funny?” und guckt uns belustigt und glücklich an. Während die Gruppe über den Wein anfängt zu philosophieren gehen wir weiter. Wir haben gesehen, dass nur ein paar Meter weiter Bänke auf uns warten. Perfekt für unser frisch gekauftes Frühstück, doch zunächstholen wir uns einen Stempel für den Pilgerausweis und sehen uns die Klosterkapelle an. Anschließend gibt es Mamgosaft, frische Orangen, Croissants, Brot mit Marmelade…
Unser Frühstück wird jedoch plötzlich unterbrochen, als ein Radfahrer sich die Steigung neben dem Brunnen hoch kämpft. Kyra winkt ganz aufgeregt, während Michi noch kurz überlegt. Dann erkennt auch er, dass wir den Radfahrer kennen. Es ist Arsene, der junge Franzosen, den wir ein paar Tage vor Bordeaux kennenlernen. Wie schön ihn wieder zu sehen. Und er scheint sich genauso zu freuen. Wir reden aufgeregt, was wir erlebt haben und er berichtet, dass er nicht damit gerechnet hat uns wieder zu sehen, da er dachte, wir wären hinter ihm. Spontan entscheiden wir zusammen ins benachbarte Weinmuseum einen Blick zu werfen und anschließend weiter zu fahren. Wir holen uns zudem noch einen weiteren Stempel dort ab. Dann geht es weiter. Zunächst fahren wir eine Steigung hinauf. Anschließend wieder herab und hinauf. Wir treffen auf andere Pilger, die uns beim hinauf fahren anfeuern. Einer von ihnen versucht anschließend unsere Fahrräder zu fahren und ist ganz begeistert. Wir verabschieden uns und fahren weiter. Dabei haben wir Passagen wo wir viel quatschen und Passagen, wo wir gar nicht reden. Irgendwann fragt Arsene ob wir eine Pause zum Mittagessen machen wollen und wie gerufen kommen zwei Bänke unter Olivenbäumen. Das Wetter ist weiterhin perfekt, sodass wir im T-Shirt sitzen können. Wir teilen unser Essen und genießen die Pause in der Sonne. Dann geht es weiter. Noch rund 30 km liegen vor uns und die haben es in sich. Eine Steigerung heißt uns willkommen, für welche wir einige Minuten brauchen. Die Abfahrt belohnt dafür sehr. Wir genießen den Wind im Haar und die gute Straße, denn wir haben für den kleinen Hügel ausnahmsweise den Pilgerweg verlassen und fahren den Eurovelo 3 bzw 1. Der Schotterweg bergauf wäre einfach zu viel gewesen. Als wir im nächsten Ort ankommen, trennen uns nur noch 10 km von Logroño.
Kyra hat langsam genug, doch zu dritt fahren wir diese noch souverän zuende, bis wir vor der Kirche Santiago del Real stehen. Nebenan ist eine Pilgerunterkunft, die wir nutzen möchten. Zunächst schauen wir uns jedoch die Kirche an und ein Wohnungsloser weist uns Den Weg zum Ort, wo wir unseren nächsten Stempel erhalten. Arsene wartet so lange draußen und passt auf die Fahrräder auf. Zunächst haben wir ein schlechtes Gefühl bei der auf Soendenbasis laufenden Pilgerherberge, weshalb Arsene in ein Hostel geht. Nach viel hin und her entscheiden wir beiden jedoch die Unterkunft zu nutzen und werden sofort positiv überraschen. Paul, ein ehrenamtlicher empfängt uns freundlich und macht uns das Tor zum Innenhof auf, wo wir die Fahrräder unterstellen können. Anschließend erklärt er uns, wie alles funktioniert. Um 19 Uhr ist Messe, um 20 Uhr Abendessen Und anschließend Nachtgebet. Wir nehmen zunächst eine Dusche und entscheiden erneut nicht an der Messe teilzunehmen. Anders als beim ersten Tag auf dem Jakobsweg, scheinen fast alle anderen Pilger ebenfalls nicht teilzunehmen. Diese verschwinden in die Stadt. Als unsere Mägen bereits grummeln und es fast 20 Uhr ist, gehen wir hinauf in den Speiseraum. Auf den Tischen stehen bereits Salate und Brote. Wir warten bis alle angemeldeten Pilger da sind und der Pfarrer ein paar Worte auf englisch sagt. Er erklärt, dass der Jakonsweg früher viel mehr auf Spendenbasis funktionierte, doch nun gibt es eine Menge private Herbergen. Diese hier ist jedoch auf Spendenbasis und jede Person darf gerne so viel geben, wie sie möchte. Dafür steht im Flur eine braune Box. Anschließend fragt er, ob wir das Pilgerlied kennen. Er übersetzt es von Latein „Ultreia, ultreia et suseia deus adiuva os” in englisch. Es heißt so viel wie: Weiter, weiter und höher, Gott steh uns bei. Wir singen es gemeinsam und als hätten wir geprobt, hört sich toll an. Doch wir sind alle so hungrig, dass es bei einem Durchgang bleibt. Auf mehreren Sprachen hört man “Guten Appetit” und es wird Wasser eingeschenkt und Salat auf die Teller verteilt. Während wir essen lernen wir die anderen Pilger am Tisch kennen. Uns gegenüber sitzt ein Spanier, Franzose und Portugiese. Neben Kyra eine Italiener und neben Michi zwei Italienerinnen. Am anderen Ende des Tisches sind noch Michis Etagenbettpartner aus den Niederlanden sowie zwei weitere Personen. Alle sind nett. Insbesondere der Portigiese und Italiener scherzen die ganze Zeit miteinander und der ganze Tisch lacht. Man sagt, auf dem Camino (Jakobsweg) werden viele Sprachen gesprochen, doch alle verstehen einander. Nach dem Salat gibt es Paella mit Meeresfrüchten und zum Nachtisch eine Creme mit Granatapfel und süßen gebratenem Brot. Es schmeckt fantastisch und wir essen alles auf. Der Pfarrer sagt erstaunt, dass es das erste Mal wäre, dass die Pilger alles schaffen. Der ganze Tisch lacht. Nach dem Essen helfen die, die der Küche am nächsten saßen beim Abspülen und wir gehen mit dem Pfarrer bereits runter. Er zeigt uns einen “geheimen” Gang von der Herberge rüber in die Kirche. Auf der linken Seite befindet sich eine kleine Kapelle, in der wir Platz nehmen. Er verteilt das Nachtgebet in den jeweiligen Muttersprachen und ist stolz viele Sprachen vertreten zu haben. Das abendliche Ritual sieht vor, dass mit einer Schweigeminute begonnen wird, es folgt ein Gebet, der Psalm 103, eine sehr kurze Lesung und erneut ein Gebet. Die vier Teile werden auf die unterschiedlichen vertretenden Sprachen aufgeteilt. Zunächst sollen wir auf deutsch den Psalm vorlesen, doch als die anderen der Gruppe vom Spülen wiederkommen, ändert der Pfarrer es nochmal auf englisch, da dies die größte vertretene Gruppe ist. Nach dem Nachtgebet erzählt er uns noch eine Geschichte. Er hatte einen Freund, der sehr gut Modellautos bauen konnte. Die Modellautos waren so gut, dass sie später mehr als das original kosteten. Eins verkaufte er ein Modell in die USA. Da er jedoch kein englisch sprach, fragte er den Pfarrer, ob dieser mitreisen würde und das tat er. Der Käufer in den USA war so begeistert, dass er das Originalauto gar nicht mehr brauchte. Dieses Gefühl, welches der Freund in diesem Moment empfunden haben muss, dieses Gefühl hat man, wenn man in Santiago ankommt. Der Pfarrer selbst ist den Jakobsweg gelaufen und durch den Weg nach Santiago wird man nicht Pilger auf Zeit, sondern Pilger fürs Leben. Der Jakobsweg ist wie das Leben an sich. Wir beide müssen sofort an unsere gesamte Tour denken. Die Radreise ist nun unser Leben, sie wird uns prägen und ein Leben lang begleiten. Mal ist es anstrengend und man will aufgeben, dann motiviert man sich wieder oder jemand einen. Es gibt positive und negative Tage. Wir vermissen unser altes Zuhause jeden Tag. Sehr… Manchmal sogar zu sehr. Dann stellen wir alles infrage und wollen zurück. Mit den Gedanken bekommen alle ihren Stempel, wir haben diesen bereits. Dann geht es zurück in den Schlafraum, wo alle 18 Leute innerhalb kürzester Zeit einschlafen. Gute Nacht.