Tag 29 - Wunderschön und anstrengend (30.06.2024)

Von X nach Y

“Mist, der Wind hat gedreht”, sagt Michi in die stille Nacht hinein. Es ist bereits hell und die Möwen sowie Basstölpel lassen sich im Wind treiben. Sie scheinen sichtlich den Wind zu genießen, der unser Zelt zum Wackeln bringt. Das Zelt bewegt sich bedrohlich von der einen zur anderen Seite. Die Zeltstangen biegen sich und der Wind ist im Zeltinneren deutlich spürbar. Michi steigt aus dem Schlafsack und spannt nach. Von draußen ruft er Kyra zitternd zu: “Hat das was gebracht?” “Ein bisschen”, antwortet sie. Von der Sturmnacht vor einigen Wochen in Lauwersoog (Niederlanden) wissen wir, dass dieses Zelt einige aushält. Trotzdem kontrollieren wir beide nochmal den Wetterbericht. Dieser sagt gerade einmal 13 km/h an. So plötzlich wie der Wind gekommen war, ist er jedoch auch schon einige Minuten später wieder vergangen. Wir machen erneut die Augen zu und schlafen ein. Immer wieder frischt der Wind für einige Minuten auf oder werden insbesondere die Möwen aktiv und kreisen schreiend über unser Zelt. Als wir am Morgen dann schließlich aufwachen, war die Nacht ziemlich durchwachsen und insbesondere Kyra fühlt sich ziemlich gerädert. Doch der traumhafte Blick über die Steilküste zum Meer mit den zahlreichen Vögeln entschädigt alles. Zu der wunderschönen Kulisse kommt die Sonne hinaus und strahlt über das Meer. Besser hätte unser Schlafplatz nicht sein können, doch nun wird es Zeit abzubauen. Wir möchten den Morgen noch mit einem Kaffee genießen und laufen somit nur ein paar Meter zurück zu dem Punkt, wo wir gestern Abend den Papageientaucher fotografiert hatten. Der Drache (unser Kocher) wird entzündet und bereitet uns binnen weniger Minuten heißes Wasser für einen Kaffee vor. Zum Kaffee genießen wir die Schokoladepralinen vom Vortrag. Wie einfach und wunderschön das Leben sein kann! An dem Ausblick können wir uns gar nicht satt sehen. In der Zwischenzeit kommen die ersten Spaziergänger*innen mit ihren Hunden vorbei. Einige scheinen uns zu ignorieren, andere grüßen freundlich und sind an unserer Reise interessiert. Als wir den Kaffee ausgetrunken haben, machen wir uns über den Wanderweg bzw. Feldweg zurück auf den Weg zu unserer Route. Wir packen einige Taschen ab, um durch das Gatter zu gelangen und befinden uns kurze Zeit später wieder auf dem Eurovelo 12.

Über kleine Straßen fahren wir auf und ab. Dabei werden wir von zahlreichen Rennrädern überholt. An zwei ältere Rennradfahrer versuchen wir uns kurz dranzuhängen und bleiben ihnen tatsächlich eine ganze Zeit auf den Versen. In Michi ist der Ehrgeiz geweckt und er fährt ein kleines Rennen, ohne deren Wissen. Als Kyra jedoch genug von der hohen Geschwindigkeit hat, trennt sich unser Weg von den beiden, ohne, dass wir ein Wort miteinander gewechselt haben. “Hier ich habe Blumen für deine Schlauchvase”, sagt Michi stolz und hält Kyra Blumen entgegen, die er während der Straße vom Straßenrand gepflückt hat. Sofort werden diese in die Vase gesteckt und machen Emil wieder ein bisschen hübscher. Nach weiteren Steigungen blicken wir auf das weite Tal vor uns und rauschen mit 16 % Gefälle in die Tiefe, nur um anschließend wieder mit viel Steigung hinauf zu fahren. Immer wieder erblicken wir zu unserer rechten das Meer, welches uns antreibt und motiviert. Doch in Scarborough nach ungefähr 35 km ist die Luft raus. Wir brauchen eine Pause! Schnell ist eine Bank mit Blick aufs Meer gefunden. Der Himmel über uns ist noch immer komplett blau und wir bereiten Pfannkuchen mit Pudding zu. Die Pfannkuchen scheinen im warmen Sonnenschein und mit diesem Ausblick fast noch besser zu schmecken. Während wir auf der Bank sitzen bekommen wir noch die Empfehlung einen Kaffee vom Kaffeewagen zu trinken, was wir als Nachtisch gleich umsetzen. Für Michi gibt es einen Iced Latte und für Kyra ein Cappuchino. Beide Sachen schmecken tatsächlich fantastisch. Während wir die letzten Schlucke trinken, kommen drei bepackte Frauen mit Fahrrädern an. Als sie Emil und Elias sehen, sind sie überrascht und begeistert, was wir ohne Motor für eine Leistung hier in den Hügeln bringen. Sie selbst waren auf einem kleinen Wochenendetrip unterwegs und haben mit Scarborough ihr Ziel erreicht. Nun geht es mit dem Zug zurück nach London.

Für uns geht es weiter, immer der Küste folgend, in Richtung Whitby. Nach einem kurzen Verfahren haben wir unsere Straße schnell gefunden. Wir befinden uns auf dem 35 km langen Wander-/Radweg, dem Cinder Track. Der Weg verläuft entlang einer alten Trasse der ehemaligen Eisenbahnlinie von Scarborough nach Whitby. Der Boden besteht aus Kies, doch die Steigung ist angenehm. Wir schätzen auf 2-4 % und rollen angenehm den Weg immer weiter hinauf. Ganze 9 km Steigung liegen vor uns. Wir überholen immer wieder andere Fußgänger*innen und nur selten kommen oder überholen uns andere Fahrräder. “Die Engländer*innen sind eindeutig ein Wandervolk”, stellt Kyra fest. Für vereinzelte Gatter müssen wir immer wieder absteigen, doch unsere beiden Drahtesel passen problemlos hindurch. Zum Glück! Kurz bevor wir oben angelangen, sehen wir ohne vorherige Vorwarnung, erneut das Meer auf unserer rechten Seite. Dieser Anblick haut uns erneut um. Einfach wunderschön. Wir fahren langsamer als gewohnt den Cinder Track wieder hinunter, da der Untergrund recht fordernd ist. Immer wieder liegen große Steine auf der Fahrbahn oder ist die Straße weggebrochen. Zwischendurch ist der Kies wiederum so lose, dass Emil und Elias wie auf Sand wegrutschen. Doch auch hier entschädigen die Blicke und die fantastische Natur um uns herum alles. Als wir im Tal angelangt sind, hören wir aus heimischen Gärten Geräusche von einem Fußballspiel. England spielt gegen die Slowakei im Viertelfinale und wir verfolgen den Torstand übers Handy. Gleich darauf führt uns der Weg erneut mit angenehmer Steigung bergauf. Die 5 km führen uns durch Robin Hood’s Bay und diesmal haben wir fast durchgängig den Blick auf die See zu unserer rechten. Noch immer können wir uns nicht satt sehen und freuen uns bei jedem Anblick aufs Neue. Wir nähern uns Whitby und der Weg bessert sich, bis er sogar asphaltiert ist und wir mit hoher Geschwindigkeit bergab rasen, bis der Cinder Track leider endet und vor uns eine große Herausforderung wartet.

Zunächst fahren wir noch am River Esk entlang, bevor es rechts hinauf geht. Komoot warnt uns vor Steigungen mit 14 %, wobei wir die Steigung auf 30 % schätzen. Die Straße sieht wie eine Wand aus, die sich vor uns auftürmt. Während Kyras Muskeln einige Pausen benötigen, fährt Michi mit vielen kleinen Kurven die zum Glück nur von uns befahrene Straße in einem Zug hinauf. Oben angekommen, sind wir außer Atem. Die letzten Meter musste Emil sogar geschoben werden, es ist einfach zu steil! Doch nachdem wir um eine kleine Kurve gehen, trauen wir unseren Augen nicht. Wir stehen erneut vor einer “Wand”. Der Untergrund ist jedoch so lose, dass auch Elias diese nicht mehr hochfährt. Das Hinterrad dreht durch und somit bleibt uns beiden nur noch schieben. Sobald wir Aislaby erreichen, erreichen wir auch wieder festen Grund und können erneut weiterfahren. Die Steigungen haben uns jedoch so gefordert, dass wir überlegen einen Schlafplatz zu suchen. Leider ist zu beiden Seiten der Straße alles eingezäunt, weshalb es uns schwer fällt. Wir befragen schließlich einen Bauern und eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht, und beide verweisen uns auf einen Wohnmobilstellplatz 2 Meilen entfernt. Da uns keine bessere Idee kommt und sich leider keine Schlafmöglichkeit bietet, fahren wir den angesprochenen Wohnmobilstellplatz an. Wir werden sofort herzlich empfangen. Es stellt sich heraus, dass der Platz, obwohl er nur für Wohnmobile und -wagen ist, über Toilettenhäuser und Duschen verfügt. Aus diesem Grund ist es gar kein Problem, dass wir bleiben. Bezahlen sollen wir erst morgen und nun den Abend genießen, uns entspannen und eine heiße Dusche nehmen. Das setzen wir natürlich sofort um! Als das Zelt steht, geht Kyra duschen und Michi… Michi kämpft erneut mit unserem Kocher. Wieder möchte dieser einfach nicht brennen. Nach einigen Minuten läuft er mit niedriger Flamme, die gerade ausreicht, um das Wasser so heiß zu halten, dass der Reis weich wird. Während Kyra die Flamme kontrolliert geht Michi schnell duschen. Als er wiederkommt, ist das Essen fertig. Wir genießen unsere Chili sin Carne im Zelt, da die Midges unsere Köpfe umschwärmen und es ziemlich kalt geworden ist. Anschließend schlafen wir erschöpft ein. Gute Nacht!