Tag 90 - 99 Kilometer! (30.08.2024)

Von Swilly View nach Mullaghmore

Wir wachen erneut im weichen, warmen Bett auf. Kurz darauf hören wir die Haustür und dann eine Autotür. Deidre fährt, wie angekündigt früh los. Wir ziehen uns an, sammeln unser Hab und Gut zusammen und gehen in die Küche. Zum Frühstück machen wir uns den vorbereiteten Tee und zwei Müslis. “Schau!”, ruft Michi leise zu Kyra hinüber und deutet aus dem Fenster. Über dem See hängt ein Regenbogen in voller Pracht. Der Ausblick über die üppige Terrasse mit den Liegestühlen und der Hecke ist somit fast schon zu kitschig. Zu allem Überfluss ziehen nun noch Gänse über den Himmel und schaffen eine filmreife Szenerie. Wir spülen ab und gehen vor die Tür, um unsere zahlreichen Telefonate führen zu können, ohne die anderen zu stören. Wir telefonieren zunächst mit der Vertretung von Ryde in Deutschland, SES Sandmann. Perfekt, sie können uns die Felgen zusenden, sobald wir ihnen eine Adresse nennen. Dann der Campingplatz in Strandhill. Waren zusenden ist kein Problem und ankommen können wir auch, wann wir wollen. Sie sind zwar ausgebucht, aber ein Zelt bekommt man immer unter, meint der nette Herr am anderen Ende der Leitung. Perfekt! Als nächstes bestellen wir die Felgen und fragen nach, ob die Bestellung durchging. Es hat geklappt. Perfekt! Kyra ruft noch schnell bei Continental an, doch leider funktioniert die Weiterleitung nicht. Wir versuchen es erneut und bekommen eine E-Mail Adresse genannt. Wir schreiben eine E-Mail und hoffen, dass beide Räder neue Mäntel bekommen können. Dann schnappt sich Michi den Hörer und ruft bei der Fahrradwerkstatt in Sligo an, da auf unsere gestrige E-Mail keine Antwort erfolgt ist. Leider geht auch niemand ans Telefon. Niall steht in der Eingangstür. “Good morning. How are you?”, fragt er freundlich. Dann erklärt er nochmal, dass übers Wochenende alles abgesperrt wird, da sie ja mit den Söhnen weg sind. Es tut ihm sehr leid, aber wir müssen weiterziehen. Für uns ist das kein Problem, wir haben unseren groben Plan und sind unglaublich dankbar, dass wir überhaupt eine zweite Nacht bleiben durften. Die neue Route steht und beide Esel müssen “nur” irgendwie weitere 100 km durchhalten. Wir putzen unsere Zähne und Niall verschwindet im Haus. Kurz darauf kommt er mit einem Glas und Löffel wieder. Es ist ein Honig aus der Region und wir müssen jeweils einen Löffel probieren. “It’s good for you”, sagt er etwas insistierend und hält uns den vollen Löffel hin. Wir sind etwas irritiert, aber probieren jeweils einen Löffel. Dann muss Niall auch schon los. Er fragt nochmal, ob wir in das Haus müssen, damit er die Tür schließen kann. Im Zweifel ist der Sohn auch noch da und wir sollen einfach klopfen. Wir sind mit allem soweit fertig und verabschieden uns von Niall. Er steigt ins Auto und wir winken ihm nach. Wir packen unsere restlichen Sachen zusammen. Das Tarp wird zusammengefaltet und Jess packt sich den Tampen, mit dem unser Werkzeug umwickelt ist. So “raufen” wir noch etwas mit ihm. Geben ihm anschließend noch eine ausgiebige Streicheleinheit und sagen nun auch: “Leb’ wohl!” Bei James ist das Auto nicht da und somit halten wir nicht noch kurz, um uns zu verabschieden. Wir stellen fest, dass wir vermutlich auf keiner Radtour ein und dieselbe Strecke so häufig hintereinander gefahren sind. Doch schon nach einer Weile ändern wir unsere Route und fahren nicht nach Letterkenny, sondern knicken Richtung Südwesten ab. Nach einem Hügel erreichen wir Convoy und nach einem weiteren die etwas größere Straße N13. Diese trifft in Stranorlar auf die N15 und da gerade die Schule aus zu sein scheint, ist sie gut befahren. Schulkinder laufen lachend in Schuluniformen herum und wir schlängeln uns hindurch. Dann geht es durch eine bessere Wohngegend immer weiter einen Hügel hinauf. Michi entdeckt ein Geldstück im heißen Teer. “Wer den Cent nicht ehrt…”, sagt er großmännisch mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. Rein rechnerisch lohnt sich der zeitliche Aufwand vermutlich nicht, aber das Prinzip zählt. Fast oben angekommen, holt Michi Kyra wieder ein. Dann geht es weiter hinauf in einen Wald hinein.

Kurz nach einer Pippi-Pause hören wir einen Motorroller und Gesang. Ein Mann fährt fröhlich auf irisch singend und hupend an uns vorbei. Wir winken fröhlich zurück. Dann radeln wir in eine wunderschöne leicht hügelige Landschaft hinein. Ein Bach plätschert ungehindert entlang, hohe Hügel begrenzen den Horizont und die Sonne strahlt uns ins Gesicht. Einzig die rechteckigen Flächen frischen Torfabbaus trüben das Bild etwas. So gelangen wir zurück auf die N15. “Wir haben eine Nachricht von Conti!”, schreit Kyra von hinten. Wir halten auf dem Seitenstreifen an. Zwei Rennradfahrer passieren uns auf der gegenüberliegenden Seite. Wir grüßen uns freundlich. Auch Continental wird uns Mäntel schicken. Sie brauchen nur eine Adresse und leider gibt es unsere Reifen nicht mehr. Michi schreibt die E-Mail und gibt nochmal die Spezifikationen der Felgen durch. Eine Adresse haben wir noch nicht, aber wir versprechen uns bis Montagmorgen zu melden. “Stand da wirklich “for free”?”, fragt Kyra. “Ja, da steht: “Wir senden sie euch “for free” zu”, antwortet Michi ungläubig. “Die meinen bestimmt den Versand”, ergänzt Kyra. Egal ob mit oder ohne Versandkosten oder gar komplett geschenkt, wir sind überglücklich. Wir werden bald neue Mäntel und Felgen haben. Somit können wir alles bis auf den Nabendynamo reparieren und unsere Reise zeitnah fortsetzen. Michi liest Kyra die Antwort an Continental nochmal vor. Die Rennradler kommen zurück und halten neben uns. “Is everything alright?”, fragt der eine. Wir bejahen und kommen in ein kurzes Gespräch. Wir berichten von unseren anstehenden Reparaturen und, dass wir versuchen, in Richtung Sligo zu gelangen. Peter und Patsy sind beeindruckt vom Gepäck und der Tour. Peter gibt uns seine Nummer. “If you get stuck, call me”, sagt Peter freundlich, aber mit Nachdruck. “He’s a good guy, call him even if you’ve made it.”, ergänzt Patsy. Beim Losfahren ruft Peter noch scherzend: “Don’t you dare overtake us, then you’re dead!” Wir lachen und verabschieden uns. Michi liest die E-Mail weiter vor. “Er kommt zurück”, sagt Kyra in Peters Richtung blickend. Michi sendet die E-Mail einfach ab und wendet sich Peter zu. Als er bei uns ist sagt er, dass er nicht weit von Sligo entfernt wohnt und er es mit seiner Frau absprechen müsse, aber wir gerne auch zu ihnen kommen können. Wir merken uns den Namen der Stadt, nehmen das Angebot gerne an und verabschieden uns erneut. Nun treten wir beschwingt in die Pedale. Alle Probleme scheinen sich gerade in Luft aufzulösen. Einzig die Entfernung bleibt und die Gewissheit, dass unsere Esel es nicht mehr allzu lange durchhalten werden. So entscheiden wir uns, so lange wie möglich auf großen Straßen zu bleiben, sofern diese einen Standstreifen haben. Denn wir wollen starke Steigungen, schlechte Bodenbeläge und jeden unnötigen Kilometer vermeiden. So rasen wir die N15 entlang und entscheiden uns gegen einen Besuch von Donegal mit seinem schönen Zentrum. Im Schnitt sind wir nun, unsere erstrampelte Höhe nutzend, mit über 20 km/h unterwegs. Bei Ballyshannon verlassen wir die N15 und machen eine kurze Rast. Im Vorbeifahren hat Michi einen Namen auf der anderen Seite gesehen und möchte sich das ganze etwas genauer ansehen. “Port of the Dead” steht auf einem Stein. Der unheilvolle Name, der der Titel eines Horrorfilms sein könnte, hat jedoch eine simple Erklärung. Die Treppen hinab zum Fluss lag tatsächlich ein kleiner Anleger – für die Toten. Denn in einer Zeit bevor die Brücken über den Fluss gebaut waren, mussten die Toten aus dem Süden ihre letzte Reise per Boot angehen, um auf dem nördlich gelegenen Friedhof beerdigt werden zu können. Ob der Fährmann hier ebenso, wie in der griechischen Mythologie Charon, einen Obolus für die Überfahrt einforderte, ist nicht auf der Erklärtafel beschrieben. Dann Essen wir unser restliches Toastbrot und brausen weiter.

Kurz vor Mullaghmore, auf einer engen Straße, umgeben von sumpfigen Wiesen, die mehr Wasser als Wiesen sind, rufen wir Peter an. “Where are you Michael? I talked to my wife and when i mentioned that you’re german she said: “oh nooo”… I’m just kidding you’re not getting a sofa, you get a bed and your own room. You can’t miss us, it’s not so big. We’re having a drink. Just ride into the town and you’ll see us”, sagt Peter freundlich und scherzend. Wir sind einfach nur überglücklich und rollen die letzten Kilometer nach Mullaghmore. Zur Linken steht ein prächtiges schlossähnliches Herrenhaus im Abendlicht. Dann erblicken wir das Örtchen und fahren direkt auf den kleinen Hafen zu. Wir machen zwei Bars oder Restaurants aus und schon winkt Peter mit seiner Frau uns zu sich. Er stellt uns seiner Frau Colette vor und fragt uns, ob wir etwas trinken wollen. Schwups stehen zwei Bier vor uns.

Wir quatschen und lernen uns ein wenig kennen. Colette fragt uns, ob wir die Räder laden müssen? Wir verneinen und sagen, dass es ganz normale Fahrräder sind, Drahtesel eben. “Peter said, they are electric”, gibt sie den Ball weiter an Peter. “Patsy and I  thought they are! I’ve to call Patsy!”, sagt Peter gespielt erschrocken. Er ruft an und erzählt, dass wir nun hier sind und dass unsere Räder nicht elektrisch seien. Gespielt ernst, stellt er die Vermutung auf, dass sie atomar angetrieben sein müssen oder mit irgendeiner geheimen deutschen Technik. Dann reicht er Michi das Telefon, damit dieser Patsy bestätigt, dass es keine E-Bikes sind. Er kann es nicht glauben und ist begeistert. Sie unterhalten sich noch kurz und Patsy bekräftigt nochmal, dass Peter ein ganz netter Mensch ist. Dem können wir nur zustimmen. Wie Niall bei uns merkte, dass wir nichts Böses im Schilde führen, war uns das bei Peter ebenso nach den ersten paar Sekunden klar. Michi telefoniert noch kurz mit den Eltern und berichtet von den neuesten Entwicklungen. Dann unterhalten wir uns noch eine Weile. Colette verabschiedet sich ins Bett, Peter holt noch eine Runde Bier. Dann kommen noch zwei Bekannte vorbei und wir quatschen ein wenig mit. Als die Gläser sich leeren, machen auch wir uns auf. Wir schieben die Esel einen Hügel hinauf und schließen sie vor einem schönen Ferienhaus an. Peter bittet uns hinein und zeigt uns alles. Dann fragt er uns nach einem Tee oder Kaffee? Wir wählen Tee, reden auf dem Sofa sitzend über Gott und die Welt, ehe wir mit einem “Good night” ins Bett verschwinden.