Tag 140 - Widerstandsnester (19.10.2024)

Von Longues-sur-Mer nach Pointe du Hoc

Wir wachen in der Nacht auf. Der Regen hat eine kurze Pause eingelegt, die wir prompt nutzen, um aufs Klo zu gehen. Dann schlafen wir erneut unter dem Prasseln ein. Erst der Wecker reißt uns aus unseren Traumwelten. “Guten Morgen”, gähnt Michi und blickt in das ebenso verschlafene Gesicht von Kyra. Wir entscheiden uns aufgrund des Regens noch einmal umzudrehen. Nach einer Weile wachen wir erneut auf und frühstücken im Zelt. Es gibt Baguette mit dem Rest Camembert und Marmelade. Mhm, lecker! Dann wischt Kyra das Zelt ab und Michi packt innen alles zusammen. Doch der Regen fängt von neuem an. Also gibt es für uns ein zweites Frühstück im Zelt. Geschwind werden unsere Tassen mit Müsli und Milch gefüllt. Nach einer Weile lässt der Regen auch erneut nach, sodass wir gegen 10 nach 11 Uhr das Zelt erneut trocknen, abbauen und losrollen. Den ersten Stopp legen wir jedoch bereits nach wenigen Metern ein. 

Die Küstenbatterie Longues-sur-Mer liegt direkt neben dem EuroVelo und so entscheiden wir uns spontan, diese anzusehen. Zunächst laufen wir an den vier Geschützbunkern entlang. Die Geschütze sind noch erhalten und richten ihre Mündungen gen Meer. Dann folgen wir dem Pfad weiter an einem Personalbunker zu einem Tobruk-Bunker und schließlich dem Bunker mit dem Feuerleitstand direkt an der Küste. Die dicken Stahlbetonwände sind gleichsam beeindruckend und bedrückend. Wir lesen die Schautafeln, begegnen nur wenigen Menschen. Die Anlage wurde im Vorfeld der Invasion stark bombardiert, allerdings ohne nennenswerte Schäden. Am 06. Juni 1944 wurde sie zusätzlich erneut von Schiffen beschossen und lieferte sich ein Duell auf Distanz mit dem britischen Schiff Argonaut. Nach 170 abgegebenen Schüssen aus den vier 15-cm-TbK C/36 wurde das Feuer eingestellt, ohne dass ein Schiff versenkt wurde. Die gesamte Mannschaft ergab sich am 07. Juni britischen Soldaten. Beim Gehen spricht uns eine Frau zunächst auf französisch und dann auf italienisch an. Da sie auch kein Englisch spricht, erweist sich die Kommunikation etwas schwierig. Wir lachen viel und so viel ist klar, sie findet unsere Räder schwer beladen und die Radtour toll. Wir verabschieden uns und füllen noch schnell die Wasserflaschen auf der Toilette auf, dann kommt auch schon eine Schulklasse, die alles andere als erfreut über den Ausflug scheint.

Wir schwingen uns auf die Räder und treten nach etwa einer Stunde Aufenthalt kräftig in die Pedale. Wir lassen die Küste etwas hinter uns und folgen dem Weg ins Landesinnere. Es geht vorbei am Mont Cavallier. “Schau mal da”, sagt Michi zu Kyra und zeigt auf einen weißen Haufen in einem Feld. “Sind das Muscheln?”, fragt Kyra ungläubig. In der Tat ist es ein Haufen Kammmuscheln. Da wir uns noch auf den Camino frances begeben wollen, läuft Kyra schnell hinüber und sucht sich die schönsten heraus.

Weiter geht es auf einem herrlichen neuen Radweg. Wir brausen geradezu dahin. Dazu kommt auch noch die Sonne heraus. Das freut nicht nur uns, sondern auch zwei Esel, die uns neugierig anschauen und dann auch eine Streicheleinheit genießen. Es geht weiter leicht auf und ab und dann finden wir eine Bank am Wegesrand. Mit einem grandiosen Ausblick kochen wir Nudeln mit Pesto. Parallel waschen wir noch unsere Haare. Dann geht es auch schon wieder gesättigt weiter. Wir erreichen einen weiteren Strandabschnitt, Omaha Beach. Hier landeten die US-Amerikaner unter schwersten Verlusten. Man kann und möchte sich die Situation am Tag der Landung nicht vorstellen. Wir radeln hinunter zu dem nun 80 Jahre später friedlich und wunderschön liegenden Strand. Dann geht es einen kleinen Hügel hinauf zum Denkmal der 1. Infanterie Division. Erneut erschaudern wir. Jeder Name steht wieder für ein Leben, das zumeist im jungen Erwachsenenalter erlosch. In unmittelbarer Nähe befindet sich das WN 62, eine Verteidigungsstellung der Deutschen, die eine Vielzahl der Namen zu verantworten hatte. Heute, wie damals, hat man von hier einen traumhaften Ausblick über den Strand und aufs Wasser. Doch heute herrscht Frieden, Freiheit und eine enge Freundschaft zwischen den ehemaligen verfeindeten Nationen. Für ein Leben in dieser freien und friedlichen Welt kann man einfach nur dankbar sein. Wir verlassen die Dünen in Richtung des Friedhofs der amerikanischen Soldaten. Dieser hat jedoch nicht rund um die Uhr geöffnet. Etwas verdutzt stehen wir vor dem geschlossenen Tor. Zwei Kameras beobachten uns. Vielleicht ist es auch ganz gut, nicht noch mehr mit dem Tod konfrontiert zu werden. So wenden wir uns ab und rollen unverhofft in das Museum zur Operation Overlord. Dieses ist bereits geschlossen, aber der Außenbereich ist weiterhin geöffnet. Hin und hergerissen zwischen der Faszination für Technik und dem Gräuel, das mit dieser angerichtet wurde, steht Michi vor einem Panzer. Dieser weist zahlreiche Kampfspuren auf, ein anderer einen Streifschuss am Turm. Der massive Stahl sieht aus, als hätte jemand mit dem Finger in frischen weichen Lehm gedrückt. Es ist und bleibt unvorstellbar. Wir verlassen das Museum und… landen erneut am Strand. Wir passieren das Denkmal der 2. Infanterie Division beim WN 65 und legen eine Pause ein. Doch auch hier am Fuße der Dünen ist gleich die nächste Gedenkstätte für die Marine-Kampfsprengkommandos. Wir können nichts mehr aufnehmen.

Die Gefühle sind ebenso gemischt und so treten wir erneut in die Pedale. Auf einmal ertönt wildes Hupen und reißt uns aus den Gedanken. Eine Hochzeitsgesellschaft fährt fröhlich durch den Ort. Wir klingeln fröhlich zurück und winken. Sie zeigen uns den Daumen und hupen wie verrückt. Dann wird es langsam dunkel. Die Sonne senkt sich über dem Meer und wir strampeln keuchend die Klippen hinauf. Der sandige Pfad führt uns an Feldern vorbei und auf einmal sehen wir Parkbänke und einen Radreisenden mit seinem Zelt. Didi ist auf einer Rundreise von Belgien über Großbritannien und nun auf dem Rückweg. Im Winter ist er in Norwegen unterwegs. Dann allerdings auf Langlaufskiern mit einem Schlitten hinter sich, der sogenannten Pulka oder er trainiert mit Huskys. Wir unterhalten uns gut, tauschen uns übers Radreisen aus und sprechen über unsere Erlebnisse auf Reisen. “We’re sorry, but the sun…”, sagt Kyra mit Blick auf die beinahe verschwundene Sonne. Wir tauschen noch Kontaktdaten aus und verabschieden uns. Didi gab uns den Tipp, dass in etwa 5 km noch eine Sitzbank Garnitur mit gemähter Wiese kommt. Mit den ersten Sternen erreichen wir den Ort und bauen das Zelt auf. Im Zelt gibt es noch etwas Müsli und dann schlafen wir ein. Gute Nacht!