Tag 188 - Nikolaus auf Kopfsteinpflaster (06.12.2024)

Von Carreço nach Carreço

Als wir aufwachen ist der Kölner Student bereits wach. Er macht sich bereits zum Surfen fertig. Wir sehen zu, dass wir unsere Habseligkeiten für das Frühstück sortieren. Da entdecken wir die Schafe und zwei neugierige Pferde. Das eine ist zunächst scheu, dann mutig und lässt sich nach einem ersten Beschnuppern gerne streicheln. Als das zweite das mitbekommt will es natürlich auch. „Na klar, jetzt kommst du auch an“, sagt Michi grinsend. Bereitwillig streckt er den Arm aus und… nach einer kurzen Berührung schnappt der Neuzugang seinen Unterarm. „Au! Das ist zu rabiat. Da gibt’s für dich keine Streicheleinheiten mehr!“, ruft er und er meint es ernst. Es hat sich ausgekuschelt und somit geht es direkt zum anderen Bereich der Herberge. Als wir uns gerade durchs Tor zum Gemeinschaftsraum aufmachen, kommt uns der indische Pilger aus London entgegen. „Buen Camino!“, sagen wir und er wünscht uns ebenfalls eine gute Reise und zieht von dannen. Schade, gerne hätten wir uns noch etwas bei einem Kaffee unterhalten. So sitzen wir alleine mit unserem Müsli in dem nett eingerichteten Raum. Wir inspizieren die DVD Sammlung, die alten Bücher der Herberge und entdecken noch so manch Interessantes neben den Sofas und an den Wänden. Wir machen noch einen Kaffee. „Der Ort ist nett, lebt aber ganz klar von den Menschen oder?“, fragt Kyra in die Stille der einsamen Zweisamkeit. „Ja, definitiv, aber es ist schon schön hier“, bestätigt Michi. Da kommt der Kölner Surfer rein. Doch auch er ist heute nicht sonderlich kontaktfreudig. Er schnappt sich ein Ladekabel vom Tisch und verschwindet mit den Worten. „Ja, ich fahre dann gleich los. Vielleicht sieht man sich ja noch auf einen Cheesecake.“ Den hat er uns am Vorabend empfohlen, allerdings konnte er das Café im Ort nebenan auf der Karte eindeutig finden. Wir wünschen ihm alles Gute und verabschieden uns. Als der Kaffee leer ist gehen wir zurück. Es regnet, dann wieder nicht, dann wieder. Das Zelt ist nass. Egal, wir packen es ein. Dann werden noch schnell die Zähne geputzt und die Aussicht genossen, während zwei Katzen um uns herumtollen. Wir verlassen die Albergue vorbei am Expeditionsfahrzeug des Inhabers.

Durch Gassen und über Kopfsteinpflaster rütteln wir uns den Weg hinab zur Bundesstraße. Diese überqueren wir jedoch nur, um erneut zwischen alten Häuschen auf den Steinen bergauf zu kriechen. Den Drahteseln gefällt es nicht. Sie protestieren unter Quietschen und Knarren der vernachlässigten Teile. Nur noch ein paar 100 km und dann werden sie neue Teile bekommen, geputzt werden, ausruhen können. Doch jetzt heißt es weiter durchhalten. Die Gassen werden schmaler, steiler und dann geht es hinab. Eine asiatische Pilgerin kommt strahlend den Hügel hinauf. „Buen Camino!“, ruft sie freudig. Wir erwidern den Pilgergruß und die Sonne kommt raus. Schon sind wir am Meer. Die See ist heute etwas aufbrausend und Welle um Welle klatscht gehen die Felsen. Ein Angler steht routiniert am Rande der Brandung und schleudert den Angelhaken in die Fluten. Es spritzt und die Gischt legt sich wie ein Schleier über die Landschaft. Wir gelangen auf sandigen Pisten nach Viana do Castelo. Der Ort hat sich für die Weihnachtszeit herausgeputzt und wir hängen mittendrin, denn es ist… Nikolaustag. Menschen schieben sich durch die Gassen und über Zebrastreifen. Andere sitzen in Restaurants oder genießen einfach das Wetter auf den Bänken. Wir bahnen uns den Weg vorbei am Fortaleza de Santiago da Barra über einem Markt, auf dem allerhand angeboten wird. Sogar lebende Vögel. Wir schieben schnell an den armen Wesen vorbei. Da winkt uns ein alter Schuhverkäufer. Mit leuchtenden Augen wünscht er uns „Buen Camino!“. Wir bedanken uns und sind immer wieder überrascht, wie sehr das Pilgern und Leben mit den Pilgern hier positiv im Alltag verankert ist.

Dann rollen wir wieder auf das Kopfsteinpflaster und hinein in die Blechlawine, die sich hier häufig, scheinbar ungefiltert qualmen, durch die Stadt schiebt. Ein paar ältere Herren sitzen am Rand und einer ist ganz begeistert von uns. Er versucht herauszufinden woher wir stammen. Spricht uns somit auf portugiesisch, spanisch und französisch an. Wir geben zu verstehen, dass wir leider nur Englisch, Deutsch und ein paar Wörter in anderen Sprachen sprechen. Er lacht, meint, dass wir doch bestimmt etwas französisch sprechen und reckt dabei seinen Daumen in die Luft. Die Ampel schaltet auf grün. Michi ruft:“Au revoir… Bye bye… Tchau.“ Wobei das letzte auch ein Ciao oder Chao gewesen sein könnte. Viele Sprachen, viele Gemeinsamkeiten und doch feine Unterschiede nebst denen, die offensichtlich erscheinen. Es geht über die Ponte-Eiffel. Ein letzter Blick zurück zum Santuário do Sagrado Coração de Jesus der Kirche auf dem Monte de Santa Luzia und wir lassen die Stadt hinter uns. Auf der Bundesstraße geht es den EuroVelo 1 entlang nach Castelo do Neiva und durch andere kleine Orte. Endlich, nach endlosen Kilometern auf dem Seitenstreifen erreichen wir Esponsende und finden dort einen Aldi. Kyra hüpft schnell hinein. Sie kommt mit Müsli, Milch und Brötchen sowie Baguette zurück. Schnell radeln wir durch die Stadt an die Strandpromenade. Ein langer zweispuriger, roter Radweg führt am Wasser entlang. Alle paar Meter stehen Betonquader als Alternative zu üblichen Bänken. Da eine halb überdachte, fassähnliche Sitzgelegenheit mit Tisch fest im Beschlag einer Gruppe junger Damen ist, entscheiden wir uns für einen Quader. Die Sonne scheint und wir genießen Brötchen mit Frischkäse, Tomate, Gurke und Rucola-Salat. Lecker! Tatsächlich hat Kyra sogar heimlich ein Eis gekauft. Wir genießen es und planen unsere weiteren Fahrtage sowie die Zeit zwischen den Jahren. “Wo verbringen wir Weihnachten?” “Mit wem?” “Machen wir eine Pause oder fahren wir einfach weiter?” “Was sollen wir Silvester essen?” dies und vieles mehr fragen wir uns abwechselnd. “Was macht die denn? Ist da alles in Ordnung?”, fragt Michi. Mittlerweile ist nur noch eine aus der Gruppe Jugendlicher übrig und liegt auf dem Dach. “Wer denn?”, fragt Kyra im Umdrehen. Doch schnell ist klar, alles ist gut. Sie ist scheinbar nur auf das Dach geklettert, um einen spektakulären Ort für ihre Social-Media Choreographie zu haben. Der Schwächeanfall scheint zur Choreo zu gehören. So übt sie weiter verschiedene Posen auf dem Dach des Fasses und wir finden teilweise Antworten auf unsere Fragen zu Weihnachten und dem Jahreswechsel. Also fahren wir weiter über die Ponte Luis Filipe nach Fão. Wir folgen der Hauptstraße und gelangen zurück ans Meer.

Wellen brechen, Möwen kreischen und der Geruch von Salz liegt in der Luft. Schon biegen wir auf Schotter und Sandpisten ab. Staubend und polternd rattern Kleinlaster an uns vorbei. Aus den hüpfenden Führerhäuschen winken uns braungebrannte Landwirte freundlich, ehe sie hinter der nächsten Biegung verschwinden. Nur noch der Staub, zuweilen die Abgaswolken aus einem qualmenden Auspuff und natürlich wir, bleiben zwischen den Gewächshäusern zurück. Dann überqueren wir eine ausgestorbene asphaltierte Straße und finden uns auf Kopfsteinpflaster wieder. Darin derart aus dem Auspuff, dass wir zeitweise eingenebelt werden. Es geht durch verschiedene kleine Orte, immer die See zur Rechten gen Süden. Für die Pilger verbindet ein schöner Bretterpfad alle Orte direkt an der Küste entlang. Auch unser Navi weist den EuroVelo 1 auf dem Bretterpfad aus, doch ein Schild zeigt eindeutig… hier ist Radfahren verboten. Vielleicht war es mal anders. Mit Emil und Elias wäre es ohnehin auf dem schmalen Pfad ein unnötiges Ärgernis für uns und die Fußgänger. Schön sieht der Weg allemal aus und garantiert traumhafte Blicke aufs Meer, fernab von Trubel und Verkehr. Das merken wir uns, falls wir in Zukunft den, verglichen mit dem Frances und Norte,  flacheren Camino Portugués an der Küste laufen wollen. Für den Moment geht es für uns jedoch zurück auf… Kopfsteinpflaster. Langsam wird es dunkel und wir rütteln durch kleine Orte, holpern an Lädchen vorbei, bestaunen klappernd Villen und rattern in verwinkelten Gassen an kleinen Reihenhäuser vorbei, die gebaut wurden, als es den Begriff Reihenhaus noch nicht gab. Alle eng gedrungen, aus dem Material, das da war und  perfekt in die vorhandenen Lücken eingepasst. Eine alte Frau zieht gerade das eiserne Gartentor zu, strahlt uns an und wünscht uns einen schönen Abend. Wir erwidern den Gruß und schleichen unüberhörbar in die Nacht davon. Nur ein altes Ehepaar, das gemeinsam, wie vermutlich jeden Abend, einen Hügel erklimmt, scheint uns nicht zu bemerken. Es ist ein solch friedliches Bild, das die beiden, eng eingehakt sich gegenseitig stützend, abgeben. Man möchte fast anhalten und sie nach ihrer Lebensgeschichte fragen, doch dazu wird es nicht kommen. Plötzlich wird die Straße wieder stärker befahren und wir lassen uns von den geschäftigen Autos im Feierabendverkehr mitreißen. Wir erreichen in einem Neubaugebiet den für unseren Schlafplatz markierten Feldweg. Eine Mutter bringt mit ihrem Sohn Weihnachtsbeleuchtung und -schmuck an der Mauer ihres Anwesens an. Etwas irritiert blicken sie uns nach. Ein Bewegungsmelder hat die Drahtesel registriert und wir werden von einem Scheinwerfer neben dem Tor zu einem weiteren Anwesen taghell angeleuchtet. Schnell verschwinden wir dem Feldweg folgend ins Dunkel der Nacht. Bambus ragt links und rechts auf. Der Weg verengt sich und schlussendlich ist es nur noch ein zugewachsener Pfad. Es ist nass und leicht sumpfig. Man hört das Meer ganz nah rauschen, doch von der Stellfläche, einer kleinen grünen Wiese, fehlt jede Spur. Die Campervans, die laut Internet an dieser Stelle gestanden haben, waren eindeutig schon lange nicht mehr hier. Wir müssen umdrehen. Unter Einsatz aller Kräfte schieben wir die Drahtesel den rutschigen Pfad zurück hinauf. Es geht erneut am Scheinwerfer vorbei. Wieder leuchtet er stark auf. “Es gibt noch einen Platz daneben”, sagt Kyra und lotst Michi zu einem Restaurant am Strand und in einen alten Weg neben dem schönen Bretterpfad des Caminos. Laut Schild gibt es in 300 m eine Herberge. “Nein, wir können nicht schon wieder…” sagt uns die Stimme der Vernunft und so bleibt uns nichts weiter übrig – wir fahren den alten Weg entlang. Wiesen sind abgesperrt, aus dem Schotter wird Sand. Ganz am Ende im Nichts finden wir eine kleine halbwegs gerade Fläche, deren Boden nicht nur aus Sand besteht. Sie liegt allerdings direkt neben dem Bretterpfad. Egal… “wir bauen morgen früher ab”, beschließen wir einstimmig. erschöpft stellen wir die Räder ab und bauen das Zelt auf. Wir essen noch das restliche Baguette und die Brötchen, als zwei Hunde vorbeirennen. Sie kommen interessiert zurück und zeigen Herrchen und Frauchen an, dass wir da sind. Die scheint es jedoch nicht sonderlich zu interessieren. Es grüßen uns noch Jogger mit strahlenden Kopflampen und weitere Spaziergänger auf Gassi-Tour. “Wir haben alles versucht. Bisher hat sich niemand daran gestört und wenn, dann ziehen wir weiter und schauen dann”, sagt Michi müde. Kyra ist, wie meistens hinsichtlich der Menschen unbesorgt und ebenso ausgelaugt. “Das passt schon, denke ich”, gähnt sie. Ein paar Jugendliche rasen jauchzend und lachend mit ihren Rädern auf dem Bretterpfad entlang. Wir versuchen, noch ein paar Seiten Blog zu schreiben und schlafen erschöpft unter dem rauschen der Wellen ein. Gute Nacht!