Fahrrad-Weltreisetag 192 - Die Monsterwellen von Nazaré (10.12.2024)

Von Nazaré nach São Bartolomeu dos Galegos

Es ist saukalt, vielleicht 5 °C. Man sieht den Atem, aber das Zelt ist noch feucht, nicht gefroren. Wir essen Müsli und bereiten uns mental auf das Verlassen unserer kleinen warmen Blase vor. Schon packen wir alles zusammen. “Meine Hände… brrrr”, keucht Kyra. “Ein Glück ist die Wärmeleitfähigkeit von Aluminium soooo gering”, sagt Michi sarkastisch mit schmerzverzerrtem Gesicht, als er gerade das Zeltgestänge faltet. Es ist wahrlich kein Spaß, aber es könnte deutlich schlimmer sein. “Stell dir vor im Regen oder nein… Schneeregen bei 4 °C und Wind”, meint er aufmunternd. “Neiiiin. Dann bleib ich im Zelt”, antwortet Kyra und wir scherzen noch etwas weiter. Essen hätten wir ja für mehrere Tage. Doch wir können es nicht weiterspielen, schließlich haben wir eine Verabredung mit Virginie und Ralf. Die beiden haben wir vor einem Monat in Saint Jean Pied de Port kennengelernt, also am Tag vor unserem Start auf dem Camino frances. Sie sind derzeit mit ihrem Camper nahe Nazaré und da wir uns gut verstanden haben, freuen wir uns auf ein Wiedersehen bei einer guten Tasse Kaffee. Wir schieben die Drahtesel durch den Sand und an eingefurchten Kiefern vorbei. Harz läuft aus ihren Wunden direkt in Gummibecher. Früher war diese Art der Harzgewinnung weit verbreitet. Heute sind die zugehörigen Berufe Pechsieder, Schmierbrenner oder Harzer in Vergessenheit geraten. Das Verfahren zur Gewinnung des Rohstoffs im großen Stil ist einfach aufwendiger, als entsprechende Synthesen der Petrochemie. Doch als Nischenprodukt, wie zur Herstellung von Kolophonium, dem Geigenharz, ist das Verfahren noch geläufig. Wir strampeln durch die Kälte auf einem Radweg entlang. Dann erreichen wir Nazaré.

Ein Riesenrad steht auf dem Marktplatz neben Buden eines Weihnachtsmarkts. Schon winken uns zwei Menschen ganz aufgeregt. Es sind Virginie und Ralf, die wir in Saint-Jean-Pied-de-Port zum ersten mal getroffen haben. Wir spazieren durch den Ort und Frühstücken in einem schönen kleinen Café. Die beiden laden uns zu Kaffee und Croissants ein. Dankbar speisen wir und quatschen über alles mögliche. Ihnen hat Fatima sehr gefallen, die Prozession, der Platz insgesamt war es einfach faszinierend. Wir haben es verpasst, aber somit ein Grund für uns wiederzukommen. Wir füllen unsere Wasserflaschen auf und spazieren durch die kleinen Gässchen der Stadt. Ein wunderschöner Ausblick eröffnet sich vor uns und der untere Teil von Nazaré liegt vor uns. Virginie schießt ein paar Fotos von uns und wir zücken ebenso die Kamera. Um die Kurve finden wir dann den berühmten Praia do Norte mit seinen Monsterwellen. Diese haben heute jedoch Urlaub. Es ist kaum zu glauben, dass hier manchmal Wellen von über zwanzig Metern brechen. Und regelmäßig Weltrekorde ersurft werden. Heute vergnügen sich lediglich zwei Surfer in den etwa vier Meter hohen Wellen. Wir beobachten, quatschen und genießen das schöne Wetter. Dann laufen wir zurück und es wird Zeit sich zu verabschieden. Wir werden uns wiedersehen, das ist gewiss. Die Esel rauschen unruhig durch die engen Gassen hinab. Es geht über Kopfsteinpflaster vorbei an wartenden Autos, Lieferwagen und Eis schleckenden Touristen und die Promenade entlang.

Ein letzter Blick zurück auf die Steilklippen und den oberen Teil der Stadt und wir rollen hinaus. Ein steiler Anstieg bringt uns wieder hoch auf die Klippen und wir genießen denselben Ausblick, den die in vereinzelten Grüppchen stehenden Villen auf das Meer haben. Auf dem Hügelkamm stehen alte Mühlen die zum Teil modernisiert und schön ausgebaut wurden. Die Szenerie ist einfach perfekt. Es ist windstill und wir gleiten hinab nach São Martinho do Porto. Wir rollen an der Promenade entlang. Es ist keine Wolke am Himmel und am schier endlosen Strand traut sich ein Pärchen sogar in die sanften Wellen. Für uns ist die Szenerie ziemlich skurril. Es ist Dezember und die Menschen gehen im Meer entspannt planschen. Auf unserer Nordkap Tour haben wir häufig erlebt, dass in den skandinavischen Ländern gerne ein eiskaltes Bad genommen wird. Allerdings mehr für die Gesundheit, um den Kreislauf anzukurbeln, als zum reinen Vergnügen. So wirft sich auch heute bestimmt niemand zum Spaß an der Knock, unserem ehemaligen Heimatstrand, in die Fluten der Nordsee, um ein wenig zu planschen. Doch hier ist es bei den Temperaturen im Sonnenschein natürlich entspannt möglich.

 Wir finden eine öffentliche Toilette am Strand und erledigen, was erledigt werden muss. Dann telefoniert Michi mit seinen Eltern und… den Camper kennen wir doch. Virginie und Ralf halten neben uns. Wir quatschen noch einmal ein wenig und freuen uns, dass wir uns schon wieder über den Weg laufen. Ralf erzählt von seiner fitten Großmutter, die mit über 90 Jahren noch ihre Pflegerin auf Trab hält. Dann trennen sich unsere Wege erneut. Wir radeln bei Salir do Porto links weg ins Landesinnere und folgen der Straße durch Örtchen. Rauch von unzähligen kleinen Feuern zieht übers Land. Wir passieren ein paar der Feuerstellen und scheinbar verbrennen Landwirte alte Möbel, Holz und Grünschnitt auf Haufen oder auch in Metallfässern. Der Nordostwind weht die dichten Schwaden hinaus aufs Meer. Nach einer Weile auf und ab sehen wir eine erhöhte und unglaublich lange Steinmauer. Es ist die Stadtmauer Obidos. Diese ist sehr gut erhalten und bis heute unverändert. Sie umschließt die gesamte Stadt auf dem Hügel und Menschen blicken von ihr in die Ferne. Der Wind trägt Weihnachtslieder und freudiges Kindergeschrei zu uns herüber. Wir bestaunen die Mauern und Burg im vorbeifahren und sind heilfroh, als eine Straßensperrung erst hinter unserer Abzweigung ein Weiterkommen unmöglich macht. Nun haben wir noch die Möglichkeit Flamingos in freier Wildbahn zu sehen. Doch wir finden keine fahrbare Straße, die einen erhöhten blick auf die Lagune von Obidos ermöglichen würde. Einmal komplett um diese zu fahren, kommt für uns auch nicht in Frage, da dies heute zu weit wäre. Somit geht es weiterhin durch Dörfchen und Orangenbäume säumen die Straße und stehen auf den Dorfplätzen. Ihre saftig anmutenden strahlenden Früchte ziehen uns magisch an. Da wir wissen, dass der Diebstahl von Früchten in Portugal zu einem tatsächlichen Problem geworden ist und wir auch niemanden schädigen wollen, fragt Kyra bei einer alten Frau nach. Sie gibt ihr zu verstehen, dass sie Früchte pflücken kann, sie aber nicht weiß ob sie reif und gut sind. Wir riskieren es. Ein sanfter Druck auf die Schale kann bei der Bestimmung des Reifegrades helfen. Wir nehmen ein paar weichere von einem der Bäume. Kyra recherchiert etwas zu Orangen und ist begeistert. “Manche Orangen-Sorten können sogar bis zu 6 Monate am Baum gelagert werden”, sagt sie beeindruckt. Insgesamt kommt z.B. die Sorte Valencia nach einer Reifezeit von bis zu 12 Monaten somit auf ganze 18 Monate von der Fruchtbildung bis zum spätmöglichsten Zeitpunkt der Ernte. Welche Sorte wir hier in Händen halten und wie lange sie gereift sind, wissen wir nicht, aber sie fühlen sich gut an und sehen gut aus. Wir heben sie uns für später auf und fahren weiter. Ein Junge mit Vater scheucht Gänse vor sich her und schaut diesen etwas verdutzt hinterher, als diese sich in einen kleinen Teich retten und einfach auf die andere Seite schwimmen. Fragend schaut er von seinem Vater zu den Gänsen und zurück. Diese schnattern erbost auf der anderen Seite und blicken misstrauisch zu dem Kleinen zurück. Wir verlassen die Szenerie und erreichen den nächsten Ort mit einer Krippe. Es gibt Kamele, die drei Weisen aus dem Morgenland sowie Hirten und den Stall mit Maria und Josef. Ja, sogar das Jesuskind liegt bereits im Stroh. Immer wieder treffen wir nun auf kleine und große Krippen in den Dörfern. Mal sind diese nur angedeutet, oder aus Pappe an einer kleinen Kreuzung, manchmal so pompös aus lebensgroßen realistisch bemalten Figuren in kleinen Parkanlagen. So langsam senkt sich die Sonne und mehrere deutsche und niederländische Camper fahren vermutlich auf der Suche nach Schlafplätzen an uns vorbei. Auch wir beginnen mit der Suche und finden jedoch nichts. “Hast du die Hunde gesehen?”, fragt Kyra und Michi verneint. “Die waren in den Feldern angeleint.” Tatsächlich hört man viel Gebell und neben den Hofhunden finden sich außerhalb der Ortschaften wilde Hunde und eben auch angeleinte in Feldern oder an Hüttchen. “Ne, hier bleiben wir nicht!”, sagt Michi und abrupt endet unsere Straße in Gestrüpp neben einem Steinbruch. Wir blicken auf die Karte… Der Weg sollte… aber da ist kein Weg und wenn führt er durch den Steinbruch. Wir haben noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Wir suchen parallel nach Schlafplätzen. Sie Küste ist weit weg und gut bebaut. Zurück zu den Dörfern, war dort ein Wald? “Da liegt ein Dinopark vor uns… so 5 km… hat einen Parkplatz und sonst ist da noch Wald und im Zweifel liegt es auf dem Weg zur Küste”, versucht Michi Kyra einen möglichen Schlafplatz schmackhaft zu machen. “OK, versuchen wir es…Hier bleiben wir nicht!”, bestätigt Kyra. Es geht in der Dämmerung auf der Bundesstraße entlang zu den Dinosauriern. Hundegebell begleitet uns und das Abendlicht trägt nicht zur Beruhigung bei. Am Park angekommen, entscheiden wir uns für den Wald. Schnell sind die Warnwesten verstaut und das Licht ausgeschaltet. Wir rollen etwa 200 m den Hang hinauf in den Wald. Ein Weg geht quer ab. Er scheint längere Zeit unbenutzt zu sein und ist halbwegs eben. Wir blicken uns um… Doch mit jeder Sekunde legt die Nacht ihren Schleier dichter über den Wald. Wir bauen schnell auf und platzieren noch ein paar dicke Äste vor und hinter uns am Weg, damit niemand einfach hineinfährt. Auf der Straße am Dinopark ist fast nichts mehr los. Wir kochen Reis, essen und lauschen dem Hundegebell aus allen Himmelsrichtungen. “Wo ist die zweite Kopflampe?”, fragt Kyra irritiert. Wir finden sie nicht, schreiben etwas Blog und schlafen ein. Schon bald schrecken wir vom Geheule eines Hundes wieder auf und fallen zurück in einen unruhigen Schlaf. Gute Nacht.