Tag 142 - WG-Leben (21.10.2024)
Von Hameau Fournel nach Coutances
Der Regen trommelt gegen das Zelt. “Ich will da nicht raus”, jammert Kyra ein wenig. Doch auch Michi kann sich besseres vorstellen, als in die nasse Hose zu schlüpfen und das Zelt abzubauen. Noch dämmert es nur und wir entscheiden im Zelt zu frühstücken. Als der Regen kurz aussetzt, bauen wir alles schnell ab. Die Begeisterung hält sich an diesem Morgen in Grenzen. Für den Tag ist Regen angesagt. Viel Regen. “Vielleicht wir es ja halb so schlimm. Wie oft wurde schon Sonnenschein angesagt und dann kam doch Regen?”, versucht Michi die Wetter-Stimmung zu heben, glaubt jedoch selbst nicht daran. Zum Glück ist das aktuelle Wetter nur ein Teil im Stimmungspaket und so ist die Laune gut, denn es geht gen Süden. Zudem heißt es heute ein letztes Mal D-Day. Wir sind nach drei Tagen Landungsstrände der Alliierten übersättigt mit Informationen zu dieser und dem damit einhergehenden Thema 2. Weltkrieg. So wichtig und interessant es ist, so sehr kann es auch überwältigen und sonnigen, unbeschwerten Tagen Schwermut beifügen, sodass das Grau der Filme der Vergangenheit ins Jetzt zu fließen scheint. Doch einen Anlaufpunkt haben wir noch, Saint-Mère-Église. Also nichts wie auf die Drahtesel.
Wir fahren an dichten Hecken entlang und durch kleine verschlafene Dörfern. Nach etwa 5 km sehen wir den Fallschirm am Kirchturm von Saint-Mère-Église. Dieser steht symbolisch für den Aufopferungswillen und Mut der amerikanischen Fallschirmjäger, die nicht selten ein ähnliches Schicksal erfuhren. Da die Absetzung am Morgen des 06.06.1944 aufgrund von Navigationsfehlern und Feindfeuer vorzeitig oder an falschen Orten stattfand, verfehlten die Fallschirmspringer ihre Landezonen und verfingen sich an Gebäuden oder Bäumen. So auch der Soldat John Steele an der Nordseite des Glockenturms. Hilflos musste er den Kampf um das Dorf ansehen und überlebte nur, da er sich trotz schmerzender Verwundung tot stellte. Schließlich wurde er doch entdeckt und gefangen genommen. Nach seiner Gefangennahme konnte er jedoch fliehen und schloss sich erneut den alliierten Truppen an. Das heutige Denkmal hängt jedoch an der Südseite in strahlendem Weiß. Vermutlich, da hier zugleich der zentrale Kirchplatz liegt und olivgrün nicht so sehr ins Auge fällt. Gegenüber sehen wir das Airborne Museum, entschließen uns jedoch nicht hinein zu gehen. Wir radeln über den Platz zum Kilometer null die Voie de la Liberté, die sich von Sainte Mère Eglise bis nach Bastogne in Belgien erstreckt. Auf insgesamt 1446 km markieren diese Steine den Weg der Befreiung durch die Alliierten. Doch nun wenden wir uns ab und lassen die Gemeinde hinter uns.
Auf einer Landstraße geht es hinaus und die sumpfigen Landschaften. “Mhmmm, was ist dasy?”, fragt Kyra. “Ohhh, Braten und Kartoffeln?”, erwidert Michi ebenso fragend. “Lecker!”, resümieren wir beide. Dich es geht weiter an den, von ausufernden Pfützen übersäten, Feldern entlang. Nach einer kleinen Brücke halten wir uns rechts und folgen einem Kanal. Häuser, die hier vermutlich seit hunderten von Jahren stehen bilden kleine Örtchen. Enge, von grünen Hecken gesäumte Straßen verbinden diese. Zurück auf der Bundesstraße erblicken wir den Donjon du Plessis-Lastelle oder besser dessen Reste, zu denen ein Kreuzgang hinauf führt. Imposant steht die Ruine aufderm Hügel der ehemaligen Motte. Doch der Regen setzt erneut stark ein und so verweilen wir nicht. Der Radweg führt hügelig von der Straße weg, wird schmaler und holpriger. Plötzlich ist der Weg mit Weidezaun versperrt. Wir orientieren uns kurz und ändern die Route. Die Bundesstraße war nicht sehr befahren und so folgen wir dieser, bis kurz vor Périers. Ab hier fahren wir auf einer alten Bahntrasse, doch erst gibt es am alten Bahnhof ein zweites Müsli Frühstück/Mittagessen. Wir ruhen uns aus, versuchen etwas zu trocknen und betrachten die Graffiti an der Wand gegenüber. Allesamt sind vom selben Künstler über mehrere Jahre entstanden und man erkennt seinen Stil sowie Fortschritte in dessen Fertigkeiten. Der Regen wird wieder stärker… unsere noch vom Vortag durchnässten Hosen werden ohnehin nicht mehr ganz trocken werden. Also beißen wor die Zähne zusammen und radeln widerwillig los. Doch der Weg fährt sich erstaunlich gut. Sanfte Kurven und Steigungen auf teils fein geschotterten Boden. Es geht durch Wäldchen und kleine Orte mit neu gestalteten ehemaligen Bahnhöfen.
Nach einer Weile verlassen wir den Weg Richtung Coutances und stehen pitschnass und dreckig vor Lidl. Kyra hüpft hinein und füllt unsere Vorräte wieder auf. Michi wird indessen von einem Franzosen angesprochen. Die Unterhaltung ist schwierig, da er kein Englisch spricht und Michi nur einzelne Worte und Sätze Französisch. Mit Händen und Füßen geht es jedoch immer. Er freut sich für uns und bereut, selbst nicht mehr Abenteuer erlebt zu haben. Doch Michi gibt zu verstehen, dass er doch andere Dinge erlebt haben muss und zudem ist es nie zu spät für ein Abenteuer. Beide lachen und der Mann scheint wirklich darüber nachzudenken. Schon kommt Kyra dazu. “Ohh, ohhh. Hotel… Douche…”, sagt er und macht Regentropfen mit den Händen nach. Kyra lacht. “No, no…” Zeigt auf die Wasserflasche und den Zeltsack. Michi ergänzt: “Tente.” Der Mann bekommt noch größere Augen und ruft lachend: “No! No!” Wir geben zu verstehen, dass wir manchmal auch ein Zimmer nehmen oder bei Privatleuten schlafen, aber normalerweise in der Wildnis. Er muss weiter. Wir verabschieden uns und essen noch ein Croissant. Wir fraten uns, ob es nicht genau diese zufälligen Begegnungen, die spontane ehrliche Freude sind, die solche Reisen so wunderschön machen? Was wird uns gleich erwarten? Wir radeln zur angegeben Adresse von Welcome to my Garden. Schon öffnet Sandra uns die Tür. Wir verstauen die Esel im Schuppen und werden ins Haus eingeladen. Sandra zeigt uns alles und erklärt. dass es eine Art WG ist. Alle Parteien im Haus haben ein eigenes Zimmer mit Bad, aber die Küche, Garten und Terrasse sowie ein Gemeinschaftsraum gehören allen. Wir dürfen bei ihr aif dem Zimmer duschen und bereiten unser Nchtlager in einem Durchgangszimmer zur Terrasse vor. Zudem dürfen wor auf der Terasse alles trocknen. Dann machen wir Essen. Es gibt eine, von einem WG-Mitbewohner zurückgelassene Packung Gnocchi, die wir mit Kräutern und Butter verfeinern. Sandra hat noch keinen Hunger und isst nur etwas Kuchen, den sie selbst gemacht hat. Dann muss sie doch zugreifen, es riecht einfach zu lecker. Wir gehen zum Nachtisch, Zimtschnecken und eine Stück ihres Kuchens über. Dafür erhält sie noch eine Zimtschnecke. Wir reden viel über das Radreisen, Politik, Arbeit und Nachhaltigkeit. Der Regen hört nicht auf zu plätschern. Schon stößt eine WG-Mitbewohnerin kurz hinzu. Dabei erfahren wir, dass es eine Hausmaus gibt, die Nüsse und Schokolade zu lieben scheint. Ein Glück haben wir alles gut verpackt und die Tür zur Terrasse ist dicht. Dort lagern nämlich neben unseren nassen Sachen die Früchte und Nüsse des Gartens. Wir reden noch eine ganze Weile und verstehen uns richtig gut. Doch irgendwann fallen uns allen so langsam die Augen zu und wir verabschieden uns ins Bett. Gute Nacht!