Tag 15 – Niemals hätten wir damit gerechnet (16.06.2024)

Von Patrixbourne nach Teynham

Früh morgens erwachen wir. Die Nacht war unglaublich ruhig, einzig der Regen ist auf unser Zelt geprasselt. Michi schnappt sich den Laptop und fängt an zu schreiben. Kyra packt die Sachen zusammen und verschwindet hinter einem Gebüsch um sich und ihre Haare zu waschen. Das Wasser ist kalt und Gänsehaut bedeckt ihren Körper. Nach so einer Morgenwäsche fühlt man sich jedoch wieder richtig fit! Auch Judith und Kai sind erwacht. In einer unglaublichen Ruhe und Geschwindigkeit bauen sie das Zelt ab und verstauen alles in den Taschen ihrer Drahtesel. Wir hingegen sind noch nicht wirklich weiter. Aus diesem Grund verabschieden wir uns herzlich. Kai findet sehr nette Worte und beschreibt uns als “gute Gesellschaft”. Wir versprechen uns in Kontakt zu bleiben und vielleicht zum Frühstück Canterbury erneut zu treffen. Die beiden wollen dort eine weitere Nacht über “Welcome to my garden” verbringen, um anschließend 45 km zu ihrem nächsten Spot zu fahren, wo sie auf ein Haustier für eine Woche aufpassen. Was für coole Pläne!

Die beiden rollen davon und als Kyra gerade das Zelt trocken gewischt hat, fängt es erneut an zu regnen. “Na toll”, sagt sie laut “, dann packen wir das Zelt halt nass ein”. Gesagt getan und so rollen auch wir von unserem schönen Campingspot davon. Nach einer kleinen rasanten Abfahrt sehen wir auf der rechten Seite einen Mann stehen, der an seinem Hinterrad herumbastelt. Wir bleiben stehen und fragen: “Can we help you?” Er versichert uns, dass alles okay ist und sich die Bremse nur immer wieder verstellt. Anschließend berichtet er insbesondere Michi sein halbes Leben und das Leben anderer Leute. Wir können ihn kaum stoppen, doch als wir weiterfahren ist die Stadt Canterbury schnell erreicht. Zunächst drehen wir eine Ehrenrunde durch die Stadt, da wir noch etwas erledigen müssen und den Eingang der Kathedrale suchen. Doch dann finden wir ihn, den Eingang zur Canterbury Cathedral. Das UNESCO-Weltkulturerbe gilt als Englands erste Kathedrale von 597 n. Chr. Die Kathedrale ist eines der meistbesuchten historischen Bauwerke Großbritanniens und wichtiges Pilgerziel. Als wir gerade Fotos machen, werden wir von einer Frau angesprochen. Die Frau stellt sich als Hillary vor und macht Führungen in der Kathedrale. Sie ist von unseren schweren Fahrrädern begeistert und wünscht uns alles Gute für die Tour. Kurz darauf spricht uns erneut jemand an und erkundigt sich bezüglich des Gepäcks. Seine Frau kommt aus Deutschland und wir tauschen uns kurz über unsere Heimat und weiteres aus. Wieder staunen wir, wie interessiert die Menschen an Emil und Elias sind. So ein großes Interesse und Gastfreundschaft hatten wir bisher in keinem anderen Land. Nun möchten wir etwas einkaufen und das Mittagessen mit Judith und Kai genießen. Dafür springt Kyra zunächst in einen auf dem Weg liegenden Süßigkeitenladen und anschließend in eine Mischung aus Kleidungs- und Lebensmittelgeschäft. Wirklich frische Sachen haben wir dort nicht gefunden, außer Blaubeeren. Zudem gibt es Shredded Wheat, um die gekaufte Milch in Belgien endlich aufzubrechen. Zum Glück gab es dort nur haltbare Milch…

Judith und Kai haben einen netten Platz in der Stadt gefunden und bereiten bereits ihr Mittagessen zu. Wir setzen uns mit unserem Frühstück dazu und erzählen uns weiter Geschichten von unseren Radreisen sowie aus dem alltäglichen Leben. Deren Lebenskonzept, im Winter in der Schweiz zu arbeiten und im Sommer die Monate zum Reisen mit dem Fahrrad zu nutzen, finden wir spannend. Interessiert tauschen wir uns auch über unsere Finanzen aus und dann ist der Zeitpunkt des Abschiedes gekommen. Wir machen noch ein schönes Foto zusammen, umarmen uns und stellen fest, dass wir vielleicht zum ähnlichen Zeitpunkt die Fähre zurück nach Frankreich nehmen können. Mal sehen, was passiert! Als wir weiterfahren, überlegen wir, wie viele Kilometer wir heute noch schaffen könnten und philosophieren: “Vielleicht 50 oder 60?” Die Idee war gut, doch nach einem heftigen Anstieg zur Kent University folgen Wege, die mit einer Art Gatter abgesperrt sind. Emil und Elias passen so gerade hindurch, wenn wir das Vorderrad verdrehen und anheben. Insbesondere Emil muss anschließend heftig von links nach rechts und wieder links nach rechts robben, damit sein Hinterrad mit all dem Gepäck hindurchpasst. Zum Glück kommt ein freundlicher Mann und hilft uns. Als wir durch das Gatter sind, macht er eine winkende Bewegung: “Follow me!” Ohne dass wir genau wissen, wohin es geht, folgen wir ihm. Nach wenigen Metern kommt sein Bekannter von hinten mit einem weiteren Rennrad angedüst. “You are from Germany?” fragt er. “How did you know that?” fragt Kyra lächelnd. “Your accent”, antwortet er lachend und Kyra entschuldigt sich, aber er sagt nur weiter: “Gute Reise! You see, my accent in German is bad” und die beiden lachen. Als wir kurz halten, erfahren wir auch wohin es geht: “To the coast”. Also folgen wir weiter. Die beiden fahren so schnell, dass Emil und Elias kaum hinterherkommen, doch wir bemühen uns sehr und in einer kleinen Gruppe fällt uns das immer leichter. Als wir die Küste erreichen, werden wir von David und Anthony auf einen Cappuccino eingeladen.

Wir reden fast zwei Stunden über deren Deutschlandbesuche, unsere Reise und vieles mehr. Sie können es gar nicht fassen, was wir vorhaben und wiederholen das gesagte immer wieder mit “Can you believe that?”. Die beiden sind unglaublich herzlich und wir lachen viel. Als es später wird, stellen die beiden fest, dass sie zurück müssen und auch wir wollen weiter. Wir tauschen unsere Mailadressen aus und machen uns auf den Weg. Nun geht es nah an der Küste entlang und kaum Steigungen quälen uns. Auch gibt es fast keine Gatter mehr, bis auf einmal ein besonders enges vor uns auftaucht. Es hilft nichts, Elias kommt so gerade durch und Emil muss eine Hintertasche abnehmen. Diese ist schnell wieder befestigt und so langsam kommt Hunger.

Wir überlegen entweder einen schönen Platz mit Bank zum Essen zu nutzen und noch wenige Kilometer zu fahren oder direkt beides an einem Ort zu machen. Eine Bank zu finden, scheint jedoch zwischen den nun weiten Apfelplantagen kaum auffindbar. Die beste Idee, ist den Bauer zu finden und ihn zu fragen, ob wir zwischen den Apfelbäumen eine Nacht bleiben dürfen. Leider ist dieser jedoch nicht auffindbar. Also sprechen wir einen Mann an, der gerade seinen Vorgarten hübsch macht. Noch bevor wir zu Wort kommen, guckt er uns an, lächelt und sagt: “You have a lot of luggage with you!”. Wir lachen und bejahen. Er fragt: “Where are you going? Where are you sleeping tonight?” und wir erzählen ihm, dass wir zunächst auf dem Weg in Richtung London sind und noch nicht wissen, wo wir schlafen können. “Do you have any idea where we can spend the night with our little tent?” fragt Michi. Er überlegt kurz und berichtet, dass der Bauer es bestimmt erlauben würde, aber wenn er es nicht weiß und uns sieht werde er unruhig. Dann ist er kurz still und sagt: “Maybe you can sleep in my garden. I’ll have to check with my wife.” Als er nach wenigen Minuten zurückkommt, winkt er uns nur und wir schieben Emil und Elias durch das Gartentor. Hinter dem wunderschönen Haus befindet sich ein großer Garten mit einer perfekt gemähten Rasenfläche. Er gibt uns zu verstehen, dass wir das Zelt aufbauen können, wo wir möchten und bietet uns ein Bier an. Unfassbar! Was für eine Gastfreundschaft. Als wir das Zelt gerade fertig aufgebaut haben, kommt Matthew mit seiner Frau Judith zurück. Die beiden haben sogar eine Kleinigkeit zu Essen vorbereitet. Gemeinsam genießen wir den sonnigen Abend bis es dunkel wird. Matthew hat eine Weile in Deutschland für Shell gearbeitet, er berichtet von der für ihn so schönen Zeit. Wir sind von den beiden so begeistert und dankbar für ihre Freundlichkeit, dass wir die Gesamtsituation nicht in Worte fassen können. Nach einem wunderbaren Gespräch, viel Bier und Wein sowie leckerem Brot bekommen wir das über 300 Jahre alte Haus gezeigt, das Matthew selbst renoviert hat. Insbesondere der alte Kamin im Wohnzimmer fasziniert uns sehr. Aber auch sein Corona-Projekt, der Ausbau des Kellers, ist einfach toll. Wir haben die beiden innerhalb weniger Minuten in unser Herz geschlossen und quatschen bei einem Kaffee weiter. Kyra stellt fest: “You are such a lovely couple”. Judith und Matthew singen beide in der Oper und Judith spielt die Orgel in der Kirche. Beeindruckend. Matthew ist zudem sehr gut im Kanufahren gewesen und zweimal alleine über den Ärmelkanal gefahren. Verrückt, wen wir so kennenlernen und was für talente sowie Geschichten fast alle Menschen zu erzählen haben. Als es 22 Uhr ist, können wir alle vier unsere Augen kaum noch aufhalten und gehen ins Bett. Am nächsten Morgen sollen wir unbedingt noch zum Tee und Frühstück bleiben. Das machen wir natürlich gerne! Nachdem wir das Haus noch von vorne bei Nacht gezeigt bekommen, fallen wir erschöpft und äußerst zufrieden in unseren Schlafsack. Was für ein wunderbarer Tag! Was für eine überaus herzliche Gastfreundschaft. Vielen Dank! Gute Nacht!