Tag 16 - Der Höllenritt nach London (17.06.2024)
Von Teynham nach London
Eine ruhige Nacht findet ihr jähes Ende und wir schälen uns aus den Schlafsäcken. Ein herrlicher Tag voller Sonnenschein beginnt. Kyra sucht sich einen schönen Platz im Garten, um Blogbeiträge nachzuschreiben. Michi packt indessen alles im Zelt ein. Die Idylle ist perfekt. Schafe blöken, Vögel singen und ein Specht verspeist geschickt Insekten in einem Baum, während das Zelt in der Morgensonne trocknet. “Good morning. What a beautiful day. Did you sleep well?”, fragt Matthew freundlich. “Yes, we had such a silent night.”, antwortet Michi. “Do you want to have coffee or a cup of tea? Earl Grey or ordinary? What would suit Kyra? Kyraaa? Want some coffee or tea?”, folgt sogleich ein überaus warmherziges und freundliches Fragenfeuerwerk. Wir entscheiden uns für Tee und wissen nicht so recht wo der Unterschied… “I’ll bring both so you can decide and share. With milk and sugar?”, löst Matthew unser kleines “Problem”. “Good morning! Did you sleep well?” schallt es freudig beherzt vom Haus zu uns herüber. Judith steht lächelnd auf der Türschwelle. Kurz darauf ist das Zelt abgebaut und wir sitzen mit zwei vorzüglichen Tassen Tee am Tisch bei der “love hut”. Hier stand vor Jahren ein Baum und als dieser kaputt ging, entschieden sich Matthew und Judith eine kleine Hütte an der Stelle zu errichten. Gestern hatten wir hier perfekte Abendsonne und heute erwischt uns vor ihr die des Morgens. Schon gesellen sich Dank der beiden zum Tee, zwei Gläser frischer Apfelsaft von der Plantage hinter dem Garten, Brötchen, Brot, Schinken, Salami, Cheddar, Erdbeer und Ingwer-Orange Marmelade sowie Butter. “Just to keep you going.”, ergänzt Judith bescheiden. Mehr als gestärkt und überglücklich sitzen wir noch eine Weile und genießen den Garten. Dann satteln wir die Esel. Matthew ist begeistert und fassungslos, was wir alles dabei haben und auf diese packen. Dann heißt es leider Abschied nehmen. Emil und Elias fahren noch einmal einen großen Bogen durch den Garten, um sich für ein Foto in Szene zu setzen. Judith unterbricht sogar ein Telefonat. Wir vier stellen uns dazu und “Klick”. Herzlich werden wir noch einmal umarmt und Hände gedrückt. Dann rollen wir vor das Haus für ein letztes Erinnerungsfoto. Ein letzter Abschied und freudig winkend, radeln wir davon, bis Matthew nicht mehr zu sehen ist.
Der kleine Hafen in Conyer ist schnell erreicht und… “Was ist das?”, fragt Michi ungläubig. Vor uns liegt ein neuartiges Gatter. Dieses Mal muss man den Drahtesel durch ein Tor und über zwei, etwa einen Meter auseinander liegende Trennwände heben. Zu zweit zu machen. Wir entscheiden uns für eine kurze Pause in der Sonne, um eine Unterkunft in London zu buchen. Dies erweist sich jedoch als schwieriger als erwartet. Als wir eine Reservierung vornehmen, wird unsere Postleitzahl nicht angenommen. Wir versuchen telefonisch jemanden zu erreichen, doch Fehlanzeige… Immer wieder werden wir aus der Warteschleife geworfen, bis… die Unterkunft ausgebucht ist. Ein belgisches Pärchen stößt zum Treffpunkt am Gatter hinzu. Gemeinsam heben wir ihr “Hase Pino”, ein Hybrid-Tandem aus Liege und “normalem” Fahrrad, über das Hindernis. Wir reden ein wenig über das Radreisen, als eine Gruppe von bestimmt zehn älteren, englischen Radreisenden den Treffpunkt anläuft. Wir helfen gerne und mit gemeinsamer Kraft überwinden auch sie die Trennwände. Alle fahren weiter, nur wir verweilen unter den Hammerschlägen und Schleifgeräuschen vom Hafen. Es ist heiß, wir cremen uns ein und dann “Ich hab was!”, sagt Kyra überglücklich. Ein AirBnB fast im Zentrum und nur noch 75 km entfernt. Perfekt! Schnell wird ein Profil angelegt. Kyras Identität für das Profil mit einem spontanen Selfie von Pass und Person belegt. Schon haben wir eine verhältnismäßig günstige Bleibe für die nächsten drei Nächte. Glücklich radeln wir auf Schotter den Deich entlang und gelangen zu zufrieden grasenden Schafen. Dann knickt die offizielle “National Cycle Route 1” ab und wir finden uns auf einem schmalen Single Trail wieder. Stachelige Brombeeren und Brennnesseln setzen uns etwas zu, aber wir die im Schatten liegenden Lämmchen machen alles doppelt wett und wir gelangen nach Sittingbourne. Bei der Ankunft erinnern wir uns an Matthews Rat, dieses schnell zu passieren. Es ist ziemlich dreckig, viel Industrie, Glas und Müll finden sich auf und neben dem Weg. Wir kürzen einen Bogen der Route etwas ab und durchfahren ein kleines nettes Wohngebiet, um zurück auf den offiziellen Radweg zu gelangen. In Rainham geht es rechts und hinab zum Marschland südlich der Themse Mündung… wäre da nicht ein neues Gatter. Emil und Elias machen sich so schlank es geht und mit gedrehtem Lenker sowie einem kräftigen Schub erreichen wir die andere Seite. Ein Waldweg schlängelt sich neben der Straße durchs Dickicht. 300 m später. Gatter… Straße überqueren… Gatter. Hungrig und etwas genervt lassen wir uns am Ufer nieder. Rühren uns ein zweites Frühstück aus Milch, Frühstücksflocken, Porridgemischung und Banane an und genießen. Im Hintergrund liegt ein altes Schiffswrack, der Schlick blubbert und ein gewohnter Duft nach Watt und Meer umspielt unsere Nase. Ein Hund kommt vorbei, schleckt Kyra ab und gibt auch Michi einen Kuss. Kurz darauf kommen zwei weitere. Die Rufe ihrer Besitzerinnen scheinen sie nicht wirklich zu interessieren, beim Anblick von zwei Radreisenden oder ist es eher doch das Frühstück?
Als die Hunde verschwunden sind, bestaunt ein interessiertes Pärchen unsere Räder. Wir unterhalten uns gut und kurzerhand laden uns Joel und Elaine zu sich ein. Hätte man diese Begegnung vorhergesehen, so hätten wir die Unterkunft erst ab morgen gebucht. Aber, wie sagt man so schön? Hätte, hätte Fahrradkette. So verschieben wir das tolle Angebot auf einen Tag X am Ende unserer Rundreise durch Großbritannien und Irland. Wir verabschieden uns und brechen erneut auf. Gatter… schön auf einem guten Schotte-Asphalt-Mix am Wasser entlang. “Gatter!”, ruft Michi zerknirscht von vorn zu Kyra. Diesmal ist es enger. Eine Tasche muss ab. Nervig, aber weiter. Es geht auf der Straße durch Gillingham und Chatham über den Medway nach Strood. Weiter nach Frindsbury. Nach einer Ampel sehen wir zwei normale Metallbügel als Begrenzung. Für Emil und Elias eine leichte Übung. Das wahre Hindernis lauert jedoch dahinter.
Ein etwa 2,5 m breiter, unglaublich steiler, aber asphaltierter Weg. Doch die “National Cycle Route 1” führt genau hier lang. Schwung holen, kleinster Gang und nach zwei Drittel der etwa 200 m ist Schluss. Elias will nicht mehr und auch Emil geht die Puste aus. Gefühlt mit der Nase auf dem Asphalt, wuchten wir die Drahtesel die letzten Meter empor. Trinken, atmen, schwitzen und lachen. Ein junger Mann schiebt ebenfalls sein Mountainbike die Steigung hoch: “H’ya… That one is a killer, is’nt it?”, sagt er lachend und außer Atem. Wir bejahen und folgen ihm nach einer Weile den Hügel wieder hinab. Schon geht es neben einer stark befahrenen Straße wieder bergauf. Der Radweg ist gesperrt, aber völlig intakt. Egal, einfach weiter. Einzig die Verkehrsinsel zum Überqueren der Straße ist mit Bauzaun versperrt. Also fahren wir weiter bis zum nächsten abgesenkten Bordstein. Eine Lücke und los. Zurück den Hügel hinab, wie wir gekommen sind, nur auf der anderen Seite und zurück auf die Route.
“Erst 38 km”, bemerkt Michi und es ist bereits Nachmittags. “Das wird knapp, aber das schaffen wir!”, antwortet Kyra. Es liegen noch ein paar weitere Anstiege auf unserer Route, da wir immer wieder Schleifen des offiziellen Radwegs abkürzen. Wir planen um. Mehr Kilometer, dafür flach. Einzig ein langer Anstieg verbleibt. Wir treten kräftig in die Pedale und wie gewohnt geht es über die kleinen englischen Landsträßchen mit ihren meterhohen Hecken zu beiden Seiten in Richtung Gravesend. Abermals versperren Gatter den Weg zu einer Schotterpiste entlang der Bahnlinien. Eine Stromtrasse hängt bedrohlich knisternd über uns, die Industrie linker und das Marschland rechter Hand umgeben uns. Ein verliebtes Pärchen vergisst wild knutschend die gesamte Szenerie. Wir holpern über den Schotter neben den Bahnschienen dahin, begegnen einem netten älteren Pärchen und… Gatter… Wir quetschen uns durch und vorbei an einem ungeduldig wartenden Angler samt Freundin. Beide betrachten uns, als wären wir von einem anderen Planeten. Weiter. “Ach so landet das alles hier”, stellt Kyra etwas zerknirscht und zugleich belustigt fest, als wir einen Jungen mit Fahrrad passieren, der gerade seinen Müll bewusst lässig fallen lässt. Nunja, jugendliche “Coolness”… findet man vermutlich überall. In Gravesend erklimmen wir neben einem leerstehenden Bürogebäude einen Hügel zum Gravesham Hospital, um diesen erneut auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinabzurollen. Die nett gestaltete Promenade an der Themse, mit spielenden, lachenden Kinder und den Eltern im entspannten Feierabend fliegt fast vorbei. Es folgen zahlreiche Straßenüberquerungen und das bedeutet Ampeln. Weiter nicht tragisch, wären da nicht für jede Fahrtrichtung eine separate Ampel und zwischen den Fahrstreifen eingezäunte Fußgänger-Inseln, die in einem Zick-Zack Kurs die Geschwindigkeit jeglichen Verkehrs abseits der Straße so regulieren, dass ein einfacher Übertritt einer handelsüblichen Straße unmöglich wird. Spannend wird dies bei Kreisverkehren. Hier fächern sich die Straßen in Zu- und Abfahrten auf, sodass bei einer Runde acht Fußgänger-/Fahrrad-Ampeln zu nehmen sind, sofern dieser einspurig ist. Demnach sind es mit der Gegenrichtung 16 Ampeln, da diese jeweils Knöpfe mit Anzeigen für Fußgänger und Radfahrer, links und rechts aufweisen sind es 32. “Das ist doch absurd!”, entfährt es Michi empört. So stehen wir 10 Minuten für etwa 25 m. Folgen dem Fuß-/Rad-Weg um eine Kurve, er endet, wird auf der anderen Straßenseite fortgesetzt und wir stehen erneut. Verzweifelt lachend, versuchen wir es mit Humor zu nehmen, während die Sonne tiefer sinkt und unser gebuchtes Zeitfenster zum Check-In der Unterkunft langsam zu wanken beginnt. Neben der Autobahn kämpfen wir uns unter dem ohrenbetäubenden Brausen dieser den besagten letzten großen Anstieg des Tages hinauf. Entkräftet sehen wir oben… “LONDON! DAS IST DIE SKYLINE VON LONDON!”, entfährt es Kyra jubelnd und überwältigt. Freudig erreichen wir Dartford. Ampelchaos, egal! Weiter mit roten Doppeldeckern zu deren Depot, am Recyclinghof vorbei und neu beseelt in Richtung Themse. Die “National Cycle Route 1” verengt sich wieder zu einem Single Trail und… Gatter! Eine neue Art. Ein Weg führt in eine Art Käfig mit einem Tor, sodass einzelne Personen gebeugt in diesen gehen, das Tor umschlagen und auf der anderen Seite entkommen können. Ein weiterer führt links vorbei und sorgt dafür, dass nur Personen mit entsprechend niedrigem Körpergewicht den Pfad betreten können. Mittig findet sich ein gebogenes Metallkonstrukt. Es ist unten so verengt, dass man seinen Drahtesel etwa 30 cm anheben muss, um mit etwas Glück ohne Taschen hindurchschlüpfen zu können. Um das Rätsel zu lösen, packen wir alles ab… quetschen uns links durch die BMI-Öffnung und reichen uns nacheinander die Esel… Aufsatteln… Single Trail oder eher ein Trampelpfad am Rande des Marschlandes… Er ist so dicht bewachsen, dass es einem zeitweise den Lenker verreißt. Emil hat keine Lust mehr und wirft Kyra in Brombeeren und Brennnesseln. Alles ist bis auf Kratzer gut gegangen. Doch es hilft nichts, wir müssen weiter. Nach einem schier endlosen Kampf mit dem Dickicht wandelt sich der Weg zu einem Schotterpfad, der so aussieht, als wäre er für die Asphaltierung vorbereitet und vergessen worden. Doch tatsächlich passieren wir erneut mehrere Wegweiser, die die Route ausweisen… “Unglaublich, wenn da Gegenverkehr… oder mit Anhänger”, überlegen wir laut. Wir erreichen Errith. “Ab hier geht es nur noch eben am Wasser entlang.”, frohlockt Michi. Doch erneut liegt überall Glas und Müll, im Schlick der Themse liegen Einkaufswagen, Bildschirme, ja sogar E-Bikes. Der als Promenade gedachte Weg erscheint immer mehr als unsichere Zwickmühle. Diese ist gerade so breit, dass zwei Fahrräder aneinander vorbeikommen, mit einer gut 2,5 m hohen Wand zur linken und dem Zaun als Schutz vor dem Sturz in die Themse zur rechten. Wir passieren Cliquen trinkender und Gras rauchender junger Männer. “Lass uns umplanen. Ich will hier weg”, sagt Michi bestimmt mit einem unguten Gefühl. Weg von der Promenade hinein in eher ärmliche Wohngebiete. Wir radeln durch den abendlichen Verkehr. Auf einmal wird es belebter, sauberer. Familien machen einen Abendspaziergang. Jemand wäscht sein Auto auf der Straße. Wir sind erleichtert, vollkommen platt und schlussendlich in unserer Straße. Der Code passt und schnell schieben wir die Räder in den Hausflur. Wir packen sie ab, tragen alles in die nette Wohnung im ersten Stock. Wir haben nicht einmal mehr Hunger, kochen dennoch irgendetwas mit Nudeln und einer Minestrone als Saucenersatz. Im Fernsehen läuft eine Reportage über das Leben der Queen. Wir sind endlich nach 93 km kurz vorm Zentrum von London angekommen. Gute Nacht!