Tag 173 - Noch ein Tag Gegenwind (21.11.2024)

Von Lèon nach San Justo de la Vega

Der ganze Schlafsaal schnarcht unablässig. Michi bekommt kein Auge zu während Kyra tief und fest träumt. Gegen 2:30 Uhr kann er immerhin zwischen den Scharchpausen der anderen männlichen Pilger kurze Nickerchen machen. Völlig gerädert packt er um 6:30 Uhr alles zusammen, bringt die Sachen zu den Fahrrädern und kommt mit Kuchen, Tassen und Kaffee zurück. Auch Kyra ist nun wach und es gibt Kaffee. Kurz darauf gesellen sich Isabelle und Helia dazu. Wir essen Kuchen und trinken Kaffee. Helia hat sogar richtigen Kaffee dabei und blüht diesen frisch auf. Dankend probieren wir eine Tasse. Es ist kein Vergleich zu unserem Instant-Gebräu und wir sind glatt ein bisschen neidisch. Dann macht sich jeder fertig.Michi geht schon einmal zu den Eseln vor. Kyra und Isabelle kommen nach. Wir wollen noch das Bild von gestern und Kontaktdaten austauschen. Zudem haben wir noch eine Muschel für sie. Sie wählt die rötliche mit dem Loch und ist glücklich und wir sind es auch. “We need to go back to the gate to see Helia”, sagt Kyra. Doch beim Tor angelangt steht nur der nette, wenngleich schwer zu verstehende, Hospitalero steht da und gibt uns zu verstehen, dass Helia vor etwa fünf Minuten gegangen ist. So schade! Wie gerne hätten wir noch Kontakt und Bilder getauscht. Wir alle sind sichtlich traurig, doch so ist das Leben und ist Teil des Camino. Wir verabschieden uns vom Hospitalero und Isabelle. “Buen Camino!”, rufen wir uns zu und gehen dann doch noch gemeinsam bis zur Kathedrale. Von Helia keine Spur und auch Isabelle verschwindet nun mit leuchtenden Augen und den staunenden Worten, “It’s so huge!”, in Richtung Kathedrale. Jungen und Mädchen zum Teil in Schuluniform eilen zwischen den geschäftigen Erwachsenen hindurch. Die Kathedrale ist wunderschön und zwei Engel-Skulpturen kündigen mit Weihnachtsschmuck die festliche Zeit an. Auch wir bestaunen noch einmal mehr die Fresken an der Fassade um den Eingang der Kathedrale. Dann rollen auch wir los. In einer Apotheke kaufen wir noch Magnesium und dann geht es mit dem morgendlichen Verkehr durch zahlreiche Kreisverkehre hinaus aus Léon. Vereinzelt sehen wir Pilger, die wir grüßen und zahlreiche Menschen wünschen uns “Buen Camino!” Diese Freude für und mit den Pilgern ist einfach immer wieder schön zu sehen und natürlich auch schön selbst zu erfahren. Wir folgen den gelben Pfeilen des Camino de Santiago an alten, in Hügel getriebenen natürlichen Kühlräumen. In der Vorstadt angelangt sehen wir auch die weniger schönen Seiten. In die Jahre gekommene Plattenbauten und von Müll gesäumte Straßenzüge. “Oh nein, das will ich gar nicht sehen!”, sagt Kyra. Doch wir beide sehen es. Eine Katze liegt am Wegesrand. Mit groß aufgerissenen Augen starrt sie ins Leere und ihre Glieder zucken unkontrolliert. Sie stirbt. Warum können wir nur Mutmaßen. Michi glaubt Rattengift. Helfen können wir ihr nicht mehr. Bevor es endgültig vorbei ist, fahren wir weiter. Es geht beständig gegen den Wind. Wor entscheiden uns dennoch einen kleinen Umweg zu fahren, um nicht dauerhaft an der Hauptstraße entlang zu müssen. Schotter und rot gelber Staub sind unsere treuen Begleiter.

Ein LKW rollt uns, die Schlaglöcher umfahrend, entgegen. Der aufgewühlte Staub knirscht zwischen den Zähnen als der LKW uns passiert. Wor blicken ihm nach. Doch was ist das? Ein etwas schlankerer Drahtesel kämpft sich ebenso den Schotterweg entlang. “Hey, where are you from?”, fragt Kyra freundlich. “I’m from Germany”, anwortet die Frau. “Wir auch!”, schallt es von Kyra zurück. Wir sind ihre ersten deutschen Radreisenden seit Ewigkeiten und sie unsere. Laura ist Kinderärztin und mit ihrer Freundin von Deutschland aus losgeradelt. Ihre Freundin ist bereits mit dem Zug zurück und sie möchte noch bis nach Porto oder gar Gibraltar weiterfahren. Gemeinsam radeln wor gegen den Untergrund und Wind an. Doch durch die locker frische Unterhaltung fährt es sich beinahe wieder wie von selbst. Die Themen gehen uns jedenfalls nicht aus und so setzen wir uns kurzerhand nach etwa 30 km zu einer gemeinsamen Pause in einem Dorf hin. Die älteren Dorfbewohner sitzen ebenso windgeschützt unter dem Vordach und reden über die neusten Geschehnisse. Da kommen wir natürlich gerade recht und werden sogleich freundlich gegrüßt und beobachtet. Wir grüßen zurück und bereiten unser ausgiebiges Mittagessen vor. Baguette mit Avocado, Marmorkuchen, Gebäck und Ananassaft sowie Eistee füllen das Kaloriendefizit mehr als auf. Parallel wird weiter gequatscht. Wir tauschen Kontaktdaten aus und sind schon etwas traurig, dass sich die Wege bereits wieder trennen, aber… so ist das Leben und vielleicht sieht man sich auch wieder. Wir verabschieden uns und das lokale Camino-Leitsystem aus gelben Pfeilen und Rufen der alten Männer klappt so gut, dass Laura zuerst noch mit uns mitfahren muss. Dass sie ja in eine ganz andere Richtung will, können die Dorfältesten nicht wissen. Wir bedanken uns und winken zum Abschied. Doch um die nächste Ecke halten wir, verabschieden uns und sind wieder allein/zu zweit unterwegs. Ein weiterer Mann kommt uns entgegen, imitiert mit seinen Armen gekonnt die Windböen und reckt mit einem “Buen Camino!” den Daumen in die Luft. Wir bedanken uns und radeln beschwingt weiter. Es geht durch beschauliche Dörfer, die wie ausgestorben scheinen. Die Albuergen sind geschlossen, vereinzelt haben kleine Lädchen oder Restaurants oder Kneipen geöffnet. Doch zumeist ist alles still, die Rollläden wurden heruntergelassen und die Türen sind zusätzlich verblockt. Selbst die wenigen Herbergen, die laut der Liste des Pilgerbüros in Saint-Jean-Pied-de-Port noch geöffnet sein sollen, sind zumeist mit Schildern “(today) closed” versehen. Doch dann finden wir einen Ort, an dem wir den Stempel für das Pilgerbuch erhalten können. Die Herberge preist Essen und Trinken an. Bei genauerem Betrachten erscheint sie jedoch geschlossen, obwohl die Tür offen steht. Wor versuchen unser Glück. Ein älterer Mann steht in einem bis auf einen Tisch leeren Raum. Er begrüßt uns und hält sogleich den Stempel bereit. Zack haben wir den Nachweis, dass wir auch brav geradelt sind. Angeblich soll man täglich zwei Stempel sammeln. Für uns erscheint das neben der Saison mit dem Fahrrad bereits nur schwer möglich. Als Pilger zu Fuß ohne App ist hier sogar die Suche nach einer tatsächlich offenen Albuerge schwierig. Wir folgen weiter den Pfeilen hinaus in die staubigen Hügel mit den steinigen Feldern. Ein paar Tropfen und der starke Gegenwind veranlassen und früher als geplant nach einem Schlafplatz zu suchen. Ein letzter Hügel und es reicht. Links im Nadelwald finden wir eine etwas windgeschützte Stelle zwischen den Bäumchen. Während der Regen unweigerlich auf uns zurast, bauen wir das Zelt auf. Er rast vorbei… Erst ärgern wir uns doch schon gestoppt zu sein, doch dann genießen wir unsere Spaghetti und Brot. Doch wo ist eigentlich Michis Buff? Wahrscheinlich hat er es im morgendlichen Durcheinander übernüdet in der Unterkunft liegen lassen. Doch wer weiß vielleicht taucht es auch erneut auf. Etwas traurig ob den Verlustes schreiben wir Blogeinträge und lauschen dem langsam einsetzenden Regen. Gute Nacht!