Tag 182 - Das Ende der Welt (30.11.2024)

Von Vilaserío nach Fisterra

Es tröpfelt ein wenig. Wir frühstücken Müsli im Zelt und besprechen unsere weitere Planung. “Es soll gleich kurz aufhören zu regnen, aber danach… Gewitter… Regen…”, sagt Kyra mit Blick auf ihr Smartphone. “Bei mir nicht. Hier soll es den ganzen Tag gewittern”, ergänzt Michi nüchtern, als er von seiner Wetter-App hochblickt. Wir einigen uns, dass die Tendenz bei beiden eher schlecht klingt, wir es nicht beeinflussen können und wir unsere Regenkleidung anziehen sollten. Die Regenhose bleibt jedoch erst auf dem Gepäckträger. Der Regen lässt nach… stoppt ganz. Wir springen auf und packen alles zusammen. Als wir gerade die Zeltstangen herausziehen, fängt es an zu blitzen und zu donnern. “Was gibt es schöneres als bei Gewitter auf einem Berg mit Metallstangen zu hantieren?”, fragen wir uns. Kurz darauf wissen wir es. Der Himmel öffnet alle Schleusen, sodass wir nur noch das gerade gefaltete Zelt zum Schutz ins Tarp einwickeln können. Wir sind komplett durchnässt. Es blieb nicht einmal mehr Zeit, die Regenhosen anzuziehen. Bäche haben sich gebildet und fließen braun von der ausgespülten Erde die Straße hinab. Der Regen lässt nach und wir packen die nassen Bündel ein. Auf geht’s hinab zur Landstraße und vorbei an zwei Pilgern. Die eine identifizieren wir als die Asiatin aus der Herberge gestern, als wir einen kurzen Kaffeestop gemacht hatten. “Buen Camino!”, rufen wir uns freudig gegenseitig zu. Vorbei an in Wolken gepackten Hügeln strampeln wir durch kleine Örtchen. Überall stehen die mit Kreuzen versehenen und hier typischen, steinernen Speicher. Katzen sitzen auf Fensterbänken und schauen uns interessiert hinterher. Hier und da sieht man ein paar Menschen bei der Gartenarbeit oder am Straßenrand, ansonsten sind die kleinen Örtchen wie ausgestorben. Eines umfahren wir, der EuroVelo führt hindurch, aber wir kürzen etwas ab und werden prompt mit einem recht steilen Anstieg belohnt. Kürzer ist eben nicht immer schneller. Doch als wir oben angelangt sind, erblicken wir einen tiefblauen See. Der Encorp da Fervenza liegt vor uns, doch für uns geht es sogleich wieder hinab und am See vorbei.

In Olveiroa entdecken wir ein geöffnetes Lokal. “Sollen wir?”, fragt Michi mit einem Grinsen im Vorbeifahren. “Ach du, hast dich so gefreut als du es gesehen hast. Komm! So bekommen wir auch gleich unseren Stempel”, antwortet Kyra ebenso erfreut. Wir betreten den bereits besuchten Raum und bestellen einen Café con leche, einen Espresso und zwei Schokocroissants an der Theke. Ebenso erhalten wir unseren Stempel. Draußen setzt der Regen wieder ein, aber es hilft nichts. Wir schwingen uns für die zweite Hälfte in den Sattel und gelangen über eine kleine Brücke auf einen kleinen Pfad. Es geht immer weiter hinauf und der Wind pfeift. Unter Bäumen hat jemand den Pilgern ein kleines Festmahl bereitet. Es gibt Bananen, Wasser, Säfte und Riegel oder gar eine Jakobsmuschel für kleines Geld. Sehr nett und liebevoll gemacht. Doch wir haben noch genug. Nach einem kräftigen Schluck aus der Trinkflasche geht es weiter. Der Ausblick ist bei schönem Wetter bestimmt noch beeindruckender, aber selbst jetzt ist es einfach nur herrlich den Fluß im Tal zu sehen, die bewaldeten Hänge und den schroffen Pfad mit seinen dicken Steinen. Es geht wieder hinab und zahlreiche Ablaufrinnen stoppen unsere rasante Abfahrt. Doch dann erblicken wir zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit das Meer. Jauchzend holpern wir hinab. In Cee angelangt sind wir etwas geschockt. Zumindest jetzt, im tristen Wetter, wirkt die Stadt zweckmäßig, bis heruntergekommen. Halbfertige Rohbauten, in die Jahre gekommene Plattenbauten und leerstehende, mit Graffiti beschmierte Neubauten wechseln sich ab. Dazwischen ein paar alte Schmuckstücke. Auch das Krankenhaus ist ein bunkerartiger, schmutziger Betonklotz. Doch blickt man aufs aufgepeitschte Meer über den weißen Sandstrand zu den dümpelnden Yachten… Dann erahnt man die sommerliche Idylle und hört beinahe das Lachen der Kinder am Strand. Doch diese Szene hat sich bereits in den Winterschlaf begeben. Durch die engen Gassen Corcubións klettern wir erneut einen Hügel in einen Eukalyptushain hinauf.

Alles nur, um erneut hinabzustürzen. Das nächste Örtchen, dasselbe Spiel. Vorbei am Sandstrand und den Hügel empor. Doch dann ist da was im Nebel. Eine Stadt? “Fisterra!”, jubelt Michi. Doch noch trennen uns ein paar Kilometer vom Ort. Unter uns klatschen die Wellen gegen die Felsen und über uns ziehen Wolken rasch dahin. Noch eine kurze Pause am Strand und wir holpern über große Steinplatten hinein in die Stadt. “Sollen wir erst noch zum Kap?”, fragt Kyra. “Komm schon. Dann haben wir es geschafft!”, ermutigt sie Michi. Er willigt erschöpft ein.

Wir verlassen den Ort erneut einen Hügel hinauf. Michis Kreislauf spinnt. Seine Lippen sind blau und einige Finger oder deren einzelne Glieder sind so weiß, als wäre jegliches Blut aus ihnen gewichen. “Ich fühle mich… irgendwie… betrunken… so komisch”, brabbelt er lallend vor sich hin. Er hält in einer Bucht an. Atmet tief durch… trinkt etwas… knetet die Finger… Der Spuk ist vorbei. Komisch, vielleicht zu viel Anstrengung und zu wenig getrunken und gegessen. Egal, weiter! Ein Pilgermonument weist uns den Weg. “Ultreia… ultreia et suseia!”, klingen die Worte des alten Pilgerliedes in unseren Köpfen. Nur noch einen Kilometer und… Da sind wir. Es ist geschafft, wir rollen sanft die letzten Meter am steinernen Kreuz vorbei hinab zum km 0. Wir machen Fotos und schieben uns zum Leuchtturm. Die See braust und sprudelt. Da steht der metallene Stiefel im Wind auf den Klippen aus Granit. Wir sind wirklich da und hier ist “finis terrae” das Ende der Welt. Für viele ist es nur ein wichtiges Ausflugsziel, für ein paar das Ende ihrer Pilgerreise und doch zugleich für wenige dieser ihr Beginn. Denn wer aufrichtig pilgert, begibt sich auf eine nie endende Reise zu sich. Was ist es für uns? Sicherlich nicht das Ende unserer Reise und auf alle Fälle auch nicht das unseres “Camino”. Es ist ein wichtiger Bestandteil, wenngleich ein kleiner Meilenstein unserer Weltreise. Wir haben viele Menschen auf dem Camino frances und nach Fisterra kennenlernen dürfen. Wir haben gemeinsam gegen die Erschöpfung gekämpft, gelacht, gespeist, geschlafen und tolle Erinnerungen kreiert. Dafür möchten wir allen danke sagen! Wir genießen noch kurz die steife Brise. Auf dem Rückweg überlegen wir noch kurz, ob wir auf dem Hügel das Zelt aufbauen sollen. Doch die Gewitterwarnung, der Kiesboden und der Wind halten uns davon ab, in dieser exponierten Lage das Zelt aufzuschlagen. Also rauschen wir mit Rückenwind zurück nach Fisterra. Wir entscheiden uns schlussendlich für ein günstiges Hotelzimmer und gegen die Pilgerunterkunft. Vor dem Hotel spricht uns ein Schweizer an. Er empfiehlt uns das Haus und insbesondere die günstige Massage. Diese übersteigt jedoch unser Tagesbudget, wie das Hotel selbst. Wir beginnen ein nettes Gespräch und es stellt sich heraus, dass er mit seinem gemieteten Wohnmobil auf Tour ist, er jagt den Wellen nach. Vor ein paar Monaten sah die Welt noch anders aus. Als Manager in einem größeren Unternehmen hatte er beständig die Karriereleiter erklommen und war oben angelangt. Täglich lieferte er eine top Leistung für ein top Gehalt. Für viele eine Traumvorstellung. Doch der Leistungsdruck wuchs immer weiter und auf einmal ging nichts mehr… Diagnose: Burn-out! Wie es weitergeht, weiß er nicht wirklich. Er möchte und muss erst einmal wieder zu sich finden, zur Ruhe kommen, Zeit für sich nehmen. Seine Partnerin lässt ihm diesen Freiraum und so folgt er seiner inneren Stimme und die führt ihn derzeit an die Atlantikküste. Da gesellt sich der Frankfurter Pilger vom Vortag dazu. Er hat uns wiedererkannt. Wir unterhalten uns kurz zu viert und dann muss er auch schon weiter und wünscht uns schnell alles Gute sowie “Buen Camino!” Wir wünschen es ihm auch. Der Schweizer will mit seinem Wohnmobil die Nacht oben am Kap verbringen. So trennen sich auch unsere Wege. Wir wünschen ihm alles Gute, Gesundheit und Zeit für sich. Vielleicht sehen wir uns auf der Reise noch einmal wieder. Dann schieben wir Emil und Elias in die Garage und gehen kurz aufs Hotelzimmer. Fantastisch, es hat sogar eine Badewanne. Wir kaufen noch kurz in dem Laden um die Ecke ein, Essen etwas und gehen baden. Dann lassen wir uns aufs Bett fallen. Gute Nacht!