Tag 26 - Hügelrennen (27.06.2024)
Von Woodhall Spa nach Great Limber
Ein Mann mit Hund geht am Zelt vorbei. Kyra schreckt zunächst auf, doch weder Hund noch Mensch interessieren sich für uns. Michi ist noch ganz schlaftrunken. “Da kommen noch mehr”, sagt Kyra, als wir Stimmen und Gebell vernehmen. “Morning”, grüßen mehrere Frauen samt Hunden in unser Zelt hinein und wir zurück. Es ist 6:30 Uhr und bereits gut was los auf der kleinen Wiese auf dem Deich oberhalb des Rad-/Wanderwegs. Wir packen zusammen und prüfen 3 mal, ob wir nichts im hohen Gras vergessen haben. Als wir losrollen, schippert gerade eines der hier häufig anzutreffenden schmalen Boote den Fluss entlang. Wir befinden uns nun auf der Viking Road und zahlreiche Skulpturen aus Holz und Metall säumen den schönen Radweg. Mal zwei Kühe, sich reichende Hände, eine Schafherde oder ein Krokodil. Leider sind fast alle Infotafeln so verblasst, dass die Geschichten dahinter durch die von uns mit Phantasie gefüllten Lücken am Ende eher Legenden gleichen dürften. Eines ist jedoch klar. Wir fahren auf einer alten Bahntrasse und mit dem Zug konnte man sogar King’s Cross in London erreichen oder fuhr von Lincoln nach Boston und zurück. An einem Tag! Zugegeben, das schaffen wir nicht ohne weiteres und warum der Weg Viking Road heißt, bleibt ein Mysterium. Vielleicht haben die Wikinger entlang des Weges gesiedelt oder Handel betrieben. “Summer Route oder Winter Route?”, fragt Michi, mit dem Hinweis auf Steves gestrige Aussage. Wenn sich der Weg in die Sommer- und Winter-Route teilt, sollten wir die Winter-Route nehmen, da die Sommer-Route in einem schrecklichen Pfad über ein Feld endet. Doch das Abenteuerfieber hat uns gepackt. Entgegen der Warnung fahren wir wagemutig in die Sommer-Route. “Wir können zur Not ja umdrehen”, sagt Michi und erntet einen belustigten und doch ernst gemeinten bösen Blick von Kyra. Heute, wo tatsächlich ein paar Höhenmeter auf uns warten, sind Umwege nicht in der Tagesplanung vorgesehen. Schon geht es hinab von dem schönen Radweg und hinaus auf den holprigen Feldweg. Libellen steigen vor den Reifen schutzsuchend auf und schwirren um uns. Der Weg ist wirklich nicht gut, aber ein weiterer kleiner Test für Material und Mensch. Er knickt links ab und… geschafft. Emil und Elias freuen sich über eine befestigte Straße und Lincoln entgegen. Links und rechts umgibt uns nun Wasser und der Wind peitscht uns ins Gesicht. Dann erblicken wir einen majestätischen Bau vor uns – Die Kathedrale von Lincoln. Das einst höchste Gebäude der Welt fängt unseren Blick ein und prägt Lincolns Stadtbild bereits aus der Ferne. Bei uns macht sich so langsam der “morgendliche” Hunger breit und wir planen beim Verlassen einen Einkauf ein. Als wir näher herankommen, zieht ein RAF-Jet seine Trainingsrunden über uns, der Stadt und der Umgebung. “Mist, die Brücke ist gesperrt”, sagt Michi mit einem enttäuschten Blick auf den Bauzaun an der alten Brücke. Also folgen wir dem Gewässer in die Stadt hinein, wenden und bahnen uns den Weg zurück auf unsere Route. Schon stehen wir vor unserem ersten Anstieg des Tages. Die Wand, die sich da hinter der Steigung vor uns auftut, hat laut Fahrradnavi nur eine 9 %ige Steigung. Wir erklimmen den Hügel vorbei an den schönen Kaminen der alten Häuser. Schnaufend stehen wir oben blicken zurück auf unseren Triumph und hoffen einfach, dass sich das Fahrradnavi bei der Steigung geirrt hat. “Wie haben wir das nur in Norwegen gemacht?”, fragt Kyra und ergänzt, “das waren niemals 9 %”. Michi ist ebenso irritiert. Aber geschafft. Weiter zum lieben Lidl. Kyra springt schnell rein und kurze Zeit später verspeisen wir alles in strahlendem Sonnenschein auf einer Bank an einer Ampel. Sicherlich sind einige Passanten etwas irritiert, aber ein Auto, das gleich von zwei Polizeiwagen in die Zange genommen wird, lenkt von uns ab.
Mit Brötchen, Frischkäse und Eis gestärkt geht es mit Rückenwind bergab durch Nettleham und Scothern auf die weiten Felder. Erstaunlich viele Rennräder kommen uns entgegen. Wir grüßen uns gegenseitig, feuern uns an.. Manche singen und fast alle sind gut gelaunt. Die Sonne brennt förmlich auf der Haut. Wir cremen uns erneut mit Sonnencreme ein, bevor wir Market Rasen erreichen. “Das muss ein Radrennen sein”, stellt Kyra fest, und so ist es. Am Eingang zum Lincolnshire Wolds National Landscape stoßen wir in Walesby auf einen Checkpoint mit Versorgungsstation für die Teilnehmenden. Interessiert radeln wir darauf zu und verquatschen uns sogleich mit Steven, der viel in Deutschland, im Allgäu skifahren war und auch mit seiner Frau dort die Flitterwochen verbrachte. Diese steht mit einem Bündel Luftballons daneben. Wir erfahren, dass es ein Wohltätigkeits-Rennen ist und es hier quasi alles gibt, was das Radlerherz erfreut. Steven ist begeistert von unserer Tour und fragt, ob wir darüber berichten. Als Michi sich umdreht, um die Rückseite der Weste mit dem Logo und der Website zu zeigen, hält ein Rennradler erschöpft neben uns. “Puh, now breathe in aaaand out”, sagt er mit einer großen Bewegung der Arme. Auch er ist interessiert und begeistert. Er ist mit seinem Partner aus Gera den Radweg von Kopenhagen nach Berlin gefahren und meint, dass sie nur die Hälfte dabei hatten und er weiß wie anstrengend das ist. Es ist toll, mit so vielen Gleichgesinnten sprechen zu können. Etwas über andere zu erfahren, selbst von der Reise zu erzählen und einfach etwas zu plaudern. Der Rennradler sucht sich einen Platz für das Fahrrad und wohlverdiente Erfrischungen beim Checkpoint. Dann wünscht uns Steven mit seiner Frau alles Glück und eine gesunde, pannenfreie Reise. Wir bedanken uns und rollen mit der Hoffnung unsere Wasserreserven aufzustocken zu den anderen Radlern. „Guys, really? You’re overdoing it. So much for… It’s just a 100 miles race“, scherzt ein Teilnehmer mit Blick auf unsere schwer beladenen Drahtesel. Wir lachen gemeinsam und stellen Emil und Elias am Ende der parkenden Rennräder ab. “Where are you from?”, fragt ein weiterer. “Germany”, sagen wir. “Hahaaaa. I knew it!”, sagt er auf einen Mitstreiter zeigend. Sie haben gewettet, ob wir Deutsche oder Niederländer sind, da wir so organisiert aussehen. Wir unterhalten uns gut über die Route, Schlafplätze und füllen, nachdem wir gefragt haben, unsere Flaschen an einem der Wassertanks auf. Kyra stibitzt sich noch ein Gummibärchen. Zurück bei der Gruppe, baut einer seinen geflickten Reifen ein. “I was unlucky lucky it happened right here”, grinst er und eine Frau gesellt sich zur Gruppe hinzu. Sie ist aus Südengland, im Ruhestand und war zuvor mitunter in Berlin Lehrerin. Wir reden über unsere Jobs vor der Reise. Der Reifen ist eingebaut und wir wünschen der Gruppe eine gute Fahrt. Wir reden noch etwas mit der Frau und der zuvor erschöpfte Radfahrer kommt lächelnd zu uns. “A present for you and you”, verkündet er und reicht uns je zwei Stücke Kuchen. Wir bedanken uns und ehe wir noch etwas sagen können, ist er schon bei seinem Fahrrad und mit einer kleinen Gruppe auf und davon. So ein herzlicher und netter Mensch!
Dann heißt es für uns langsam Abschied nehmen und aufbrechen. Der große Anstieg des Tages steht bevor. Noch unter den ungläubigen Blicken einer Gruppe, die uns noch nicht gesehen hatte, biegen wir links in Richtung Hügel ab. Für fast zwei Kilometer geht es nun mit 9 % bergauf. Aber das sind wirkliche 9 %. Wir schaffen es gut und sind erleichtert. Sicherlich schwitzen und schnaufen wir, aber wir sind oben und… Was für ein unglaublicher Ausblick! Wir überblicken unsere Fahrtstrecke und die Umgebung bis zurück nach Lincoln. Ein Radfahrer stoppt kurz und fragt, ob alles gut ist. Wir bejahen es und bedanken uns für die Nachfrage. Dann geht es rasant hinab. Elias schießt mit über 60 km/h hinab, nur um am nächsten Hügel wieder kleben zu bleiben. So langsam erreichen wir unsere angepeilten 85 Tageskilometer und die Schlafplatzsuche beginnt. Nach einer Weile bleibt ein Auto mit offenem Fenster neben uns stehen: “All right? Do you need something?” Ein Mann schaut aus dem Fenster und erzählt, dass sein Bruder aktuell am Fahrradfahren in Norwegen ist. Als ein Traktor sich von hinten nähert, wollen wir zur Seite, doch er gibt uns zu verstehen, dass dieser zu ihm gehört. Er scheint der Bauer von den um uns liegenden Felder zu sein. Als wir ihm erklären, dass wir einen Schlafplatz suchen, sagt er, dass er in die Richtung, in die wir fahren, leider keine gute Möglichkeit kennt. Schon verabschiedet er sich wieder und fährt weiter.
Wir fahren ebenfalls weiter und halten unsere Augen nach möglichen Schlafgelegenheiten offen. Nur kurze Zeit später sehen wir einige kleine Wäldchen um uns herum. Als wir rechts auf einen überfluteten Fahrradweg abbiegen müssen, fahren wir zwischen Wald und Feld. Nach wenigen Metern finden wir eine Rasenfläche direkt zwischen Rad- und Wanderweg. Die Fläche scheint für uns perfekt und um die Lage einzuschätzen, breiten wir erstmal unsere Bodenplane aus und schreiben Blog. Lange Zeit passiert nichts, es wird kalt… Wir holen unsere Schlafsäcke raus und kuscheln uns beim Schreiben ein. Kurz darauf kommt ein Mann mit seinem Hund vorbei. Er grüßt nett, lächelt und geht weiter. Circa 30-60 min später kommt eine Familie mit zwei erwachsenen Söhnen.
Der Mann sagt: “Oh, it’s only a cat”, sagt er, als wir uns nach dem Rascheln umdrehen. Wir scheinen sichtlich verwirrt. “We’re having a walk with our cat.” sagt er mit einem Bier in der Hand. Er hat in Saarbrücken gearbeitet und Windsurf Equipment aus dem Saarland importiert und in ganz Großbritannien vertrieben. Die Familie wohnt etwa 10 km von hier. “You found a good spot. Are you staying for the night?”, fragt er. “Probably”, antwortet Michi mit einem leicht verschmitzten Lächeln. Er reckt den Daumen in die Höhe und bietet noch ein Bier an. Wir lehnen dankend ab. Schreiben diese Zeilen und fühlen uns trotz der konstant durch den Wind herüber hallenden Schüsse sicher. Wir bauen das Zelt auf und wünschen uns eine gute Nacht!