Tag 243 - Nach 26 Jahren ein freudiger Empfang

Fahrrad-weltreise: Alicante nach Javea

29.01.2025

Lesedauer ca. 10 min

Obwohl wir die Nacht auf einem Campingplatz verbracht haben, haben wir nicht sonderlich gut geschlafen. Nachts sind mehrmals Katzen oder andere kleine Tiere an unserem Zelt vorbei gehuscht, der Camper nebenan war aufgrund der Heizung sehr laut und irgendjemand hat in der Nähe mitten in der Nacht Schutt abgeladen. Allgemein sind wir von der Situation und dem dazugehörigen Preis etwas enttäuscht, trotzdem bereuen wir unsere gestrige Entscheidung nicht. Müde strecken wir uns im Schlafsack und machen langsam die Augen auf. Wir haben circa 80 km vor uns, denn heute Abend wollen wir in Javea ankommen. In Javea wohnt eine alte Grundschulfreundin von Michi, die er seit 26 Jahren nicht gesehen hat. Ehrlich gesagt, kann er sich noch kaum an die Zeit in der Grundschule erinnern, trotzdem hat sich Daniela unglaublich gefreut, als er schrieb und fragte, ob sie an einem Treffen interessiert ist. Wir wurden direkt für mehrere Nächte eingeladen. Nun sind wir schon ziemlich aufgeregt und freuen uns sehr, dort heute Abend anzukommen. Da Daniela jedoch bis circa 20 Uhr arbeiten muss, haben wir den gesamten Tag Zeit und können es ganz entspannt angehen. Trotzdem treibt uns die volle Blase aus dem Zelt. Wir gehen nacheinander auf Toilette und Kyra fragt auf dem Rückweg vom Toilettenhaus bei unseren Nachbarn im Camper, ob sie kochendes Wasser für uns haben. Die kleine Familie stammt aus Deutschland und freut sich, mit uns ins Gespräch zu kommen. Während ihrer Elternzeit sind sie zu dritt aus Deutschland innerhalb von drei Wochen bis hierher gefahren. Ursprünglich wollten sie noch weiter in den Süden, doch ihr kleiner Sohn Mateo ist kein begeisterter Autofahrer. Aus diesem Grund mussten sie viele Pausen einlegen und wollen jetzt hier für eine Weile bleiben und die Zeit genießen. Während wir uns unterhalten, flirtet Mateo mit Kyra. Die beiden lächeln sich entgegen, wohingegen Michi eher zweifelnd angeschaut wird. Ein Lächeln bekommt Michi dann doch noch ab. Wir unterhalten uns über unsere Reisen und tauschen uns über die unterschiedlichen Erfahrungen aus. Zum Dank für das heiße Wasser schenken wir den beiden am Ende noch ein paar Beutel Ostfriesentee. Sie sind begeistert und der Vater von Mateo kommt nur wenige Minuten später mit einem bemalten Stein zurück. Er hat diesen soweit vier weitere Steine von einem Mann bekommen. Dieser bemalt sie aus Freude und möchte die Steine unter den Menschen verteilen. Nun wird uns einer überreicht. Wir fühlen uns sehr geehrt und Kyra packt den gelb-schwarz bemalten Stein vorne in ihre Lenkertasche zu dem Wichtelstein aus Emden, den sie vor der Reise von Rena geschenkt bekommen hat. Rena ist eine Kollegin und Freundin aus der Juten Seele, dem unverpackt Laden in Emden, in welchem Kyra für mehrere Jahre ehrenamtlich einmal pro Woche gearbeitet hat. Anschließend machen wir uns auf den Weg. Wir winken der jungen Familie ein letztes Mal und verlassen hinter einem Abschleppwagen, der gerade ein Wohnmobil vom Campingplatz fährt, das Gelände. Unser Start führt uns zunächst zurück runter ans Meer. Hier folgen wir parallel der Strandpromenade und werden durch reiche touristische Orte geführt.

Dabei müssen wir mehrmals starke Steigungen erklimmen, nur um anschließend wieder hinab zu schießen. Nach einer Weile sind wir das Spiel leid und bleiben auf der Hauptstraße, welche vom Verkehr angenehm ist. In Villajoyosa müssen wir jedoch eine Zwangspause einlegen. “Mist! Ich habe schon wieder einen Platten!” stellt Michi verärgert fest. Eine Schraube steckt in seinem Mantel. Der einzige Vorteil, wir müssen das Loch nicht suchen, denn die steckende Schraube verrät uns sofort, wo wir flicken dürfen. Als Michi die Schraube hinaus dreht, sind wir überrascht, wie lang diese ist. Zum Glück hat die Felge keinen Kratzer abbekommen, doch der Schlauch ist oben und unten durchstochen. Mit unseren letzten zwei Flicken kleben wir die Löcher zu. Dabei werden wir von unzähligen Passanten beobachtet. Immer wieder bildet sich auf der Straße neben uns eine längere Schlange aufgrund der roten Ampel und die im Auto sitzenden Personen beobachten jeden unserer Handgriffe. Auch vorbeilaufende Personen scheinen sehr interessiert zu sein, doch niemand fragt, ob wir Hilfe gebrauchen können. Scheinbar stellen wir uns nicht schlecht an. Während die Vulkanisierung trocknet, essen wir eine Kleinigkeit und suchen nach dem nächsten Decathlon. Zu Beginn unserer Reise hatten wir circa 30 Flicken, diese sind nun alle aufgebraucht und Nachschub muss her. Da wir auch keinen neuen Schlauch mehr besitzen, wollen wir das Risiko, irgendwo liegen zu bleiben, nicht eingehen. Als der Reifen wieder mit Luft gefüllt ist, folgen wir noch ein kleines Stück der Straße und verlassen diese dann in Richtung Norden, um die Autobahn zu unterqueren und das Sportgeschäft Decathlon zu erreichen. Während Michi mit seinen Eltern telefoniert, organisiert Kyra neue Flicken, Schläuche und Flipflops, denn sie hat ihre alten Flipflops irgendwo verloren. In der Ferne sehen wir bereits die zahlreichen Hochhäuser von Benidorm, eine Stadt, die für ihr Nachtleben bekannt ist. Wir haben jedoch vorher noch nie von ihr gehört und sind überrascht, wie imposant sie sich in den Himmel erhebt.

Interessiert fahren wir den Hochhäusern entgegen und treffen auf eine Rennradgruppe, die vor uns an der roten Ampel wartet. Wir warten hinter ihnen auf dem plötzlich beginnenden knallroten Fahrradweg. Als es grün wird, bleiben wir an der Rennradgruppe dran und folgen dieser am Meer entlang durch die Stadt. Als wir links abbiegen, trennen sich unsere Wege und über unsere Geschwindigkeit überrascht, winkt uns einer der Rennradfahrer zum Abschied noch anerkennend hinterher. Eine ganze Weile folgen wir dem sanften auf und ab der Straße, bis wir nach einer starken Steigung für kurze Zeit zurück ans Meer kommen.

Der Fahrradweg wird zu groben, schlechten Kopfsteinpflaster, während der Fußgängerweg weiterhin asphaltiert ist. Kyra regt sich darüber auf: “Warum muss das denn immer sein? Fußgänger können doch überall laufen, denen ist das egal? Warum muss der Radweg so viel schlechter sein? Warum passiert das immer wieder in Spanien?”. Selbst als der Weg wieder gut ist, ist Kyra noch genervt. Aus diesem Grund legen wir eine kurze Pause ein und setzen uns mit etwas zum Naschen ans Meer. Die schlechte Laune verfliegt sofort, als uns eine ältere Dame anlächelt und den Daumen zeigt. Kurz genießen wir die Stille um uns herum. Die Sonne kitzelt auf unserer Nase und der Wind hinterlässt eine Gänsehaut auf unserer verschwitzten Haut. “Jetzt kommen zwei Anstiege, dann ist es fast geschafft..”, stellt Michi fest. “Gut, dann los…”, motiviert Kyra sich und springt auf. Kurz danach befinden wir uns auf der Hauptstraße und treten kräftig in die Pedale. Der erste Anstieg ist angenehmer als gedacht. Wir werden bei der Auffahrt durch die zahlreichen Tunnel und Brücken mit wunderschönen Ausblicken auf das Meer von der Anstrengung abgelenkt. Schnell sind wir oben und fahren die ersten Meter hinunter. Da wir nicht genau wissen, wo es weitergeht, bleiben wir bei einer Ausfahrt der Bundesstraße kurz stehen. Hinter uns hält ein belgisches Auto und kurz haben wir Sorge im Weg zu stehen, doch der Fahrer gibt uns zu verstehen, dass sie nur halten. Eine Minute später wissen wir warum: Das Ehepaar im Auto hat auf ihren Sohn gewartet, welcher den Hügel hinter uns mit dem Rennrad hochgefahren ist. Freude strahlend guckt er seine Eltern an und ist stolz, die Steigung geschafft zu haben. Seine Eltern schauen ebenso stolz und nach kurzen anerkennenden Worten zeigen sie zu uns herüber. Der Junge staunt nicht schlecht, als er uns sieht und versteht, dass wir mit vollem Gepäck die gleiche Steigung geschafft haben. Wir lachen und winken einander. Es ist schön, sich mit so viel Respekt zu begegnen. Wir haben Respekt davor, dass er in einem so jungen Alter alleine mit dem Rennrad unterwegs ist und solche Steigungen wählt, während er vor unserem Gewicht und der damit verbundenen Anstrengung Respekt hat. Als wir kurz hinter ihm weiterfahren, trennen sich unsere Wege an der nächsten Abzweigung. Wir überlegen noch kurz, wie alt er sein könnte und schätzen ihn auf höchstens 14 Jahre. Dann folgt nach der rasanten Abfahrt die zweite Steigung. Stumm fahren wir hintereinander her, bis Michi langsam an Vorsprung gewinnt. “Bitte langsamer, wenn wir beieinander bleiben wollen”, ruft Kyra hinterher. Häufig fahren wir Steigungen getrennt, doch wenn wir auf Hauptstraßen mit Verkehr sind, versuchen wir, nah beieinander zu bleiben, um den Autos ein Überholen zu erleichtern. Michi schaltet runter und passt sich Kyras Geschwindigkeit an. In diesem Moment hören wir von hinten ein Rattern und Schalten. Der Junge von vorhin taucht plötzlich von hinten auf. Eine ganze Weile fährt er schnaufend hinter Kyra, doch als die Steigung noch steiler wird und wir aufgrund des Gepäcks noch langsamer werden, steht er auf und fährt an uns vorbei. “Respekt!”, sagen wir beide gleichzeitig. “Er war zwar auch ganz schön an seiner Grenze, aber Hut ab!”, sagt Kyra, die ihn hinter sich schnaufen und stöhnen hören hat. Kurz darauf fahren winkend seine Eltern bei uns vorbei. Auch wir müssen uns konzentrieren und atmen schwer.

Es wird zwischendurch sehr steil, dann flacht es wieder ab. Kurz bevor wir die höchste Stelle erreichen, bekommen wir ein paar Regentropfen ab. Sie fühlen sich in dieser Situation jedoch eher angenehm als lästig an. Stolz, beide Anstiege fertig geschafft zu haben, rollen wir ohne Pause mit hoher Geschwindigkeit weiter in die Tiefe. Dabei wird es bereits dunkel und wir können den angestrahlten Kirchturm von Teulada bereits aus der Ferne sehen. “Wow, das hat was!”, sagt Michi, während er ein Foto vom Kirchturm macht. Nun trennen uns nur noch wenige Kilometer vom Ziel. Nach wenigen dunklen Straßen kommen wir in Javea an. Bevor wir jedoch zu Daniela, Michis Schulfreundin, nach Hause fahren, besuchen wir noch eine Tankstelle. Zum ersten Mal haben wir Schließfächer für Bestellungen genutzt und es hat wirklich gut funktioniert. Wir geben den Code ein und die Schließfächer mit unserer Bestellung öffnen sich. Es fühlt sich fast wie Weihnachten an, als wir die zwei Pakete hinaus holen. In ihnen befindet sich eine neue Powerbank, Kopflampe, Kopfhörer, Ketten und Kettenblätter. Wir verstauen die Pakete und fahren den letzten Kilometer. Kurz darauf verfahren wir uns noch, doch als wir vor Daniela’s Haustür stehen, öffnet sie sofort. Herzlich begrüßt sie uns. Wir bekommen eine Umarmung und werden aufgefordert, die Fahrräder hinein zu schieben. Dafür öffnet sie beide Seiten der alten Flügeltür. Als wir langsam hineinschieben, staunen wir nicht schlecht. Das Haus ist wunderschön modern renoviert und alte Elemente, wie die Flügeltür oder die Wandsteine sind erhalten geblieben. Wir haben Angst, etwas dreckig oder gar kaputt zu machen. Vorsichtig lehnen wir die Drahtesel deshalb an den alten Steinen an, doch Daniela ist unglaublich entspannt. Obwohl sie Michi seit 26 Jahren nicht gesehen hat, vertraut sie uns und wir ihr auf Anhieb. Für die beiden besteht trotz der vielen Jahre eine Verbundenheit. Vielleicht ist es die gemeinsame Herkunft und ein Teil der gemeinsamen Vergangenheit, die in einem anderen Land besonders verbindet. Als die Fahrräder sicher stehen, schauen wir uns noch einmal in Ruhe um. Hinter uns liegt das offene Wohn- und Esszimmer und vor uns die Küche. Wir stehen in einem großen offenen Treppenbereich, der von oben durch ein Dachfenster lichtdurchflutet wird. “Wow”, sagt Kyra. “Das ist ein wirklich schönes Haus. Toll wie ihr die alten Steine und Türen herausgearbeitet habt.”, fügt sie hinzu. Daniela lächelt. “Ja, es ist wirklich schön geworden. Der obere Teil wurde neu aufgebaut. Kommt! Ich zeige euch das Haus und euer Zimmer”, während sie die Worte spricht, geht sie zur Treppe und winkt uns zu folgen. Wir ziehen die Schuhe aus und folgen gerne. Auch die oberen Etagen sind modern gehalten und sehr hübsch eingerichtet. Besonders gut gefällt uns die Dachterrasse, von der man einen schönen Blick über die umliegenden Häuser der Altstadt hat. “Vielleicht sollten wir doch wieder sesshaft werden”, meint Michi lachend, als wir zurück nach unten gehen. In seinen Worten steckt trotz der Ironie ein wenig Wahrheit. Natürlich vermissen wir eine gemütliche Wohnung, in der man Privatsphäre hat und sich einfach wohl fühlen kann. In der man jederzeit eine Toilette und Dusche vorfindet, eine Waschmaschine und Geschirrspüler steht. Manche Radreisende, denen wir begegnen, die erzählen uns, dass sie ihr altes zu Hause nicht vermissen. Wir hingegen können das nicht nachvollziehen. Einen schnellen Kaffee am Morgen, den Luxus einer Waschmaschine oder die Privatsphäre nackt durch die Wohnung laufen zu können, vermissen wir schon. Aber wir lieben es genauso, unser Radleben zu genießen. Vielleicht auch gerade deswegen? Es war für uns nicht leicht die Entscheidung zu treffen und umso mehr können wir jetzt die Freiheit genießen. Mit den Gedanken springen wir unter die Dusche und kommen frisch gemacht zum Abendessen hinunter. Die Tante von Danielas Freund hat für uns ein kleines typisches spanisches “Abendbrot” gezaubert. Auf dem Tisch stehen frittierte Auberginen, gebratene Paprika und eine Tortilla de patatas. Dazu gibt es eine Platte mit Käse, Wurst, Oliven und Mandeln. Was für ein perfektes Mahl. Wir genießen zu dritt das Essen und berichten Daniela von unserer Tour. Zwischenzeitlich kommt kurz ihr Freund nach Hause, der sich als Alberto vorstellt. Dann muss er wieder los und wir gucken verdutzt auf die Uhr, dass es bereits so spät ist. Da Daniela morgen arbeiten muss und wir müde von den Kilometern sind, entscheiden wir uns schlafen zu gehen. Es dauert keine Minute, bis wir in unserem tollen Gästezimmer einschlafen. Gute Nacht!