Tag 14 - Wir verlassen die EU (15.06.2024)
Von Ghyvelde nach Patrixbourne
Die Nacht war unruhig. Immer wieder sind wir aufgewacht und horchten, ob jemand den Weg entlang kommt, doch zum Glück kam niemand. Einzig der Regen besuchte uns mehrmals in der Nacht und somit ist unser Zelt durch den sandigen Boden ziemlich dreckig geworden. Es hilft nichts, abbauen, anziehen und aufsatteln. Wir sind heute erstaunlich schnell und bereits um halb 7 Uhr stehen wir abfahrbereit auf dem kleinen Weg.
Heute ist es soweit, wir wollen die Fähre nach Dover nehmen. Als wir die Abfahrtszeiten ab Calais checken und ein Ticket buchen wollen, merken wir, dass die Fähren zu passenden Uhrzeiten alle ausgebucht sind und 85 km in 2-3 Stunden sind für uns unmöglich. Aus diesem Grund entscheiden wir uns, um 12 Uhr die Fähre ab Dunkerque zu nehmen. Wir radeln bei einsetzenden Regenschauern entspannt los. Schnell ist Dunkerque erreicht. Am Straßenrand trinken wir schnell etwas und frühstücken einen Riegel. Kurz bevor wir den Hafenbereich erreichen, fällt uns ein merkwürdiger Transporter auf der rechten Seite auf. Für Autos fast nicht zu erblicken, steht er in circa 100 m Entfernung. Einige Menschen stehen drumherum und scheinen sich etwas Dunkles anzuziehen oder sind das Müllsäcke und sie fangen an Müll zu sammeln? Wir gucken uns fragend an, aber beachten die Situation nicht weiter. Nach nur weiteren 50 m jedoch nehmen wir einige Zelte in einem kleinen Waldgebiet oder eher Grünstreifen am Straßenrand wahr. Es scheint ein selbst gebautes Lager von Geflüchteten zu sein. Der Platz wirkt feucht, nass und dreckig. Überall liegt Müll. Wir sehen einen Mann aus einem Verschlag kommen. Überrascht schauen wir uns an. Von solchen Plätzen haben wir in den Nachrichten gehört und gelesen, sie jedoch noch nie gesehen. Uns wird unwohl und wir spüren deutlich, welche Privilegien wir mit unserem Pass haben. Wir können gleich ohne Probleme die Fähre nach England nehmen und uns dort lange aufhalten. Wir können frei in Europa reisen und uns geht es gut. Diese Freiheiten bzw. Privilegien haben die Menschen nicht. Wir können unsere Gefühle nicht in Worte fassen, fühlen uns hilflos und rollen mit Emil und Elias weiter der Fähre entgegen. Wir scheinen viel Glück zu haben, denn unsere rechte Straßenseite ist komplett leer. Uns entgegen kommen zahlreiche LKWs, Autos und Fahrräder. Es herrscht richtig Gegenverkehr. Wir sind froh, dass die LKWs nicht an unserer Seite an uns vorbeirauschen. Und dann ist es soweit, wir sehen sie! Die Fähre steht direkt vor uns. Noch schnell ein Ticket kaufen und ab durch die Grenzkontrolle. Zunächst zeigen wir unseren Reisepass französischen Personen, anschließend wird unser Ticket kontrolliert und dann folgt die englische Passkontrolle. Alles ist gut und wir dürfen weiter.
Gemütlich fahren wir zur Reihe 30 und freuen uns noch, dass wir hier keine 2 Stunden warten müssen, denn es ist erst kurz vor 10 Uhr und die Fähre geht um 12 Uhr. Wir werden so weiter gewunken und fahren auf die Fähre. Auf der rechten Seite stehen Fahrradstellplätze, die komplett frei sind. Wir stellen Emil und Elias jeweils zwischen zwei Stangen und binden die beiden von jeder Seite an. Somit können die Drahtesel nicht umfallen. Wir wundern uns etwas, als hinter uns das große Einfahrtstor zu geht und der Motor startet, aber wir denken uns nicht viel dabei. „Vielleicht war 2 Stunden vor Abfahrt die benötigte Ankunftszeit?“ fragt Kyra. Michi nickt nur. Doch dann fahren wir plötzlich los. Belustigt fragen wir uns „Sind wir auf der richtigen Fähre?“ – „Unsere Tickets wurden ja 2 Mal kontrolliert, es wird schon alles stimmen“. Als wir unsere wichtigsten Sachen zusammengepackt haben und die Treppen empor steigen, verstehen wir, wir haben eine Fähre früher bekommen und unser Ticket war flexibel für 3 Fähren vor bzw. nach unserer gebuchten. Was ein Glück! Auf vier Stühlen mit Tisch machen wir es uns gemütlich und fangen an, Bilder zu übertragen, Blog zu schreiben und die Aussicht zu genießen. Drei Deutsche sitzen neben uns und wir unterhalten uns eine Weile. Wir bekommen ein Bier geschenkt und erzählen von unseren Plänen. Die drei sind sehr nett: „Würdet ihr in die andere Richtung fahren, hättet ihr uns im Ferienhaus besuchen können!“. Anschließend trinken wir einen Kaffee und die zwei Stunden Fährfahrt sind schnell vorbei. Als wir in England ankommen, ist es jedoch erst 11 Uhr. Wir haben eine Stunde Zeitverschiebung.
Unsere Mägen knurren jedoch laut und wir entscheiden uns, zur Feier des Tages, Fish and Chips zu essen. Auf dem Weg zu unserem ausgesuchten Lokal entdecken wir zwei weitere Radreisende. „Sollen wir fragen woher sie kommen und was sie vorhaben?“, fragt Michi. „Klar!“ antwortet Kyra. Es stellt sich heraus, dass die beiden Judith und Kai heißen. Sie sind seit etwas über einem Monat unterwegs und möchten England sowie ein Teil von Irland umrunden, bevor es zurück nach Süddeutschland oder in die Schweiz geht. Deren Plan ist immer im Winter zu arbeiten und im Sommer für mehrere Monate auf Radreise zu sein. Was für ein interessanter Lebensstil! Bereits vor 2 Jahren waren die beiden für 1,5 Jahre unterwegs und haben viel von Europa gesehen. Kai bemerkt jedoch: „Ich bin so hungrig! Ich mache mir schnell etwas zu essen, wenn ihr möchtet, könnt ihr auch etwas kochen und mitessen.“ Wir berichten von unserem Vorhaben und entscheiden nach dem Essen zurück zu kommen. Als wir gerade das Lokal erreichen, gießt es aus Eimern. Was für ein Glück! Wir genießen unser Essen und testen zum ersten Mal Pommes mit Essig und Salz. Es schmeckt uns sogar sehr! Wir sind begeistert und haben sogar einen Blick auf die Burg. Um uns herum regnet es weiter, doch wir sitzen gut geschützt unter einem kleinen Vordach.
Als wir zu Judith und Kai zurückfahren, müssen wir uns mehrmals an den Linksverkehr erinnern. „Hier gibt es bestimmt nur Einbahnstraßen, damit wir keine Unfälle bauen“, lacht Kyra, als wir durch mehrere Einbahnstraßen fahren. Anschließend setzen wir vier unsere Gespräche fort, tauschen Nummern aus und besprechen uns Ideen zum Wildcampen zu senden. Judith und Kai benötigen noch etwas Zeit zum Abspülen und da Kyras Blase drückt, suchen wir eine Toilette, bevor es die Kreidefelsen hinauf geht. Zum Glück haben wir Rückenwind, denn der Anstieg ist heftig! Der schlimmste bisher. Michi fährt souverän die Steigung empor, doch Kyra benötigt 3-4 kleine Pausen am Straßenrand. Die Autofahrer*innen sind geduldig mit ihr und fahren langsam vorbei. Es geht um eine Kurve und noch eine und dann… Endlich! Der Anstieg ist geschafft. Wir werden mit einer wunderbaren Aussicht auf Dover belohnt. Fantastisch. Die Anstrengung ist sofort vergessen. Unser weiterer Weg führt uns durch Tunnelartige Straßen. Überall am Straßenrand sind Hecken oder Bäume, sodass sie uns fast verschlucken. Immer wieder kreuzen wir kleine Orte mit netten Steinhäusern. Wir fühlen uns sogleich wohl. So haben wir uns England vorgestellt! Die immer wieder kurzen Steigungen machen uns sehr durstig und so geht unser Wasser langsam zur Neige. „Guck mal da! Ein nettes Haus mit großem Garten. Vielleicht können wir nach frischem Wasser fragen?“, bemerkt Kyra. Und so drehen wir kurz um und klingeln, doch niemand ist da. Schade! Als wir gerade losfahren, kommt ein Fußgänger mit einem Hund vorbei. Michi ergreift die Chance und fragt, ob er in der Nähe wohnt und unsere Wasserflaschen auffüllen kann. Er bejaht sofort. Bei dem Hund handelt es sich um einen Border Terrier und Michi fühlt sich sofort an Enzo, seinen alten Familienhund erinnert. Leider ist Enzo bereits vor einigen Jahren verstorben. Michi erzählt dem Mann von Enzo und die beiden tauschen sich über Hunde aus. Anschließend heißt es für uns Schlafplatzsuche!
Das gestaltet sich gar nicht so schwer, nach einer weiteren kleinen sanften Steigung sieht Michi einen Weg durch ein großes Feld zu einer kleinen „Waldinsel“ im Feld führen. Wir fahren den Weg entlang und es entpuppt sich als perfekt! Es ist sogar Platz für ein zweites Zelt und wir schicken Judith und Kai unseren Standort. Nach kurzer Zeit entdecken wir jedoch eine Art Hütte hinter den Bäumen. Michi geht auf Erkundungstour und kann schnell verkünden: „Alles Gut! Der Bauer scheint hier nur Schutt und alte Wellbleche abgeladen zu haben. Keine wirkliche Hütte. Zum Glück. Kurz darauf erscheinen auch bereits die anderen beiden. Wir bauen unsere Zelte auf, quatschen dabei und gehen sehr zügig ins Bett. Was für eine tolle Ankunft in England. Gute Nacht!